zwei Hände legen sich schützend über ein paar Holzfiguren
Es gilt, die gesamte Gesellschaft zu schützen - jedes Figürchen. © marchmeena29 / iStock / Getty Images Plus

Pandemie | Soziale Arbeit

CORONA-KRISE: FÜR EINIGE GEHT ES UM DIE EXISTENZ

Zu Hause bleiben, die sozialen Kontakte auf ein Minimum beschränken – das ist das Gebot der Stunde. Doch was machen Menschen, die keine Wohnung haben, in die sie sich zurückziehen können? Was machen finanzschwache Familien, wenn die Kinderbetreuung inklusive Verpflegung wegfällt?

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Während es für die meisten Menschen in Deutschland darum geht, die Pandemie gesund zu überstehen und das weitere Ausbreiten des Virus – nicht nur aus Solidarität gegenüber Risikogruppen – zu begrenzen, geht es für manche schlicht um die Sicherung ihrer Existenz und die ihrer Familie. In diesen Zeiten darf die Stellung der Arbeit, denen täglich weiterhin Sozialarbeiter, Heilerziehungspfleger, Altenpfleger, Jugendämter und Stiftungen nachgehen, nicht aus dem gesellschaftlichen Fokus gerückt werden. Sie bleibt weiterhin relevant, wenn sie nicht gar an Bedeutung gewinnt. Warum?

Kinderarmut muss weiter bekämpft werden
Die Corona-Krise verschärft nach Einschätzung des saarländischen Landesverbandes des Deutschen Kinderschutzbundes das „ohnehin massive Problem der Kinderarmut“. Rund drei Millionen Kinder und Jugendliche hätten bundesweit Anspruch auf kostenloses Mittagessen in der Kita oder der Schule, da ihre Familie sich in einer prekären finanziellen Situation befinde, sagte der Vorsitzende Stefan Behr in Saarbrücken. „Diese Leistung fällt derzeit ersatzlos weg.“ Doch was tun? Der Kinderschutzbund schlägt vor, aus den frei werdenden Mitteln des Bildungs- und Teilhabepakets einen Zuschlag von 90 Euro pro Monat und Kind für alle Familien bereitzustellen, die Leistungen zur Existenzsicherung beziehen. Weitere Informationen, sowie Praxistipps und Empfehlungen für Familien finden sich unter www.kinderschutzbund-saarland.de.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund Südwesten (DGB) fordert zudem das Aussetzen der Zahlungen für die aktuell nicht stattfindende Kinderbetreuung, um Familien zu entlasten. „Die Rettungspakete, die derzeit geschnürt werden, müssen auch für Familien bestmögliche Unterstützung bieten“, sagte Martin Kunzmann, Vorsitzender des DGB in Baden-Württemberg.

Mehr Unterstützung für Obdachlose
Durch die Corona-Pandemie hat sich die Lage von Obdachlosen in Rheinland-Pfalz nach Ansicht von Hilfsorganisationen drastisch zugespitzt. Die Kommunen müssten dringend Pläne zur Versorgung Wohnungsloser mit Lebensmitteln und zur Unterbringung von Infizierten erstellen, forderte der Verein „Armut und Gesundheit“ in Mainz. Viele Kommunen hätten die Auszahlung von Tagessätzen an wohnungslose Hartz-IV-Empfänger eingestellt, sagte der Vorsitzende Gerhard Trabert. Tafeln und andere Hilfseinrichtungen seien geschlossen und Wohnheime überfüllt, unterstrich der Sozialmediziner. Die Tafeln machen bereits seit Tagen auf die sich zuspitzende Situation aufmerksam.
Covid-19 bringe Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe an die Grenzen der Belastbarkeit und reduziere die ohnehin geringen Kapazitäten an guten Plätzen für Obdachlose, sagte Buchautor von „Kein Dach über dem Kopf“ Richard Brox, der selbst 30 Jahre ohne festen Wohnsitz lebte. Nicht nur Hitze und Kälte seien für nicht sesshafte Menschen eine Lebensbedrohung, sondern auch das neuartige Coronavirus. Die wenigsten besäßen einen Gesichtsschutz oder Hygieneartikel wie Seife, Duschgel und Shampoo. Viele Nichtsesshafte würden aus Schutz vor möglichen Gewalttaten in Gruppen leben und keinen Abstand halten. Gerade in dieser Lage sei es wichtig, Notleidenden und Verarmten zu helfen. „Zeigen Sie Herz und Mut! Helfen Sie Obdachlosen“, appellierte der Autor.

Behinderte Mitbürger benötigen Unterstützung
Abstand voneinander ist in der Corona-Krise wichtig. Bei der Betreuung alter und behinderter Menschen gestaltet sich das schwierig. In zahlreichen Einrichtungen für Senioren und Behinderte spitzt sich die Lage zu. In einem Würzburger Altenheim sind sogar inzwischen zehn Bewohner an den Folgen einer Coronavirus-Infektion gestorben. Der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Diakonie in Rheinland-Pfalz, Pfarrer Albrecht Bähr, sagte hierzu gegenüber dpa: „Viele dieser Menschen sind auf Körperlichkeit geradezu angewiesen, es ist für sie eine Form der Kommunikation.“ Das breche weg, wenn Betreuer Abstand halten müssten.
Natürlich werde in Caritas-Einrichtungen sehr auf Hygiene bei Bewohnern und Mitarbeitern geachtet, erklärte die Sprecherin des Deutschen Caritasverbands, Mathilde Langendorf. „Bei Demenz reicht es nicht, Bewohner ans Händewaschen zu erinnern. Man muss es mit ihnen machen.“ Gerade das Immunsystem von Senioren sei aber nach dem Winter ohnehin geschwächt und habe auch mit anderen Keimen zu kämpfen wie beispielsweise manchmal mit Noroviren.
Auch im Raum Koblenz sind bereits mehrere Bewohner von zwei Einrichtungen erkrankt. Da die geistig behinderten Bewohner der beiden Häuser tagsüber wegen der Corona-Pandemie nicht mehr eine Werkstatt oder Tagesförderstätte besuchen könnten, ist nun laut Caritas mit mehr Personalaufwand eine Betreuung rund um die Uhr in den Wohngebäuden nötig. Der Wohlfahrtsverband rief Freiwillige mit und ohne Vorkenntnisse auf, bei der Betreuung zu helfen.

Aktion Mensch hilft
Die Aktion Mensch legt wegen der Folgen der Corona-Pandemie ein Soforthilfeprogramm in Höhe von 20 Millionen Euro auf. Ziel sei schnelle und unbürokratische Unterstützung etwa von Menschen mit Behinderung, deren Assistenzkräfte ausfallen, oder von sozial schlechter gestellten Betroffenen, die etwa wegen der Schließung von Tafeln nicht mehr mit Lebensmitteln versorgt werden können. 

Stresstest für Familien
Die Ausgangsbeschränkungen angesichts der Corona-Pandemie könnten nach Ansicht von Experten zu mehr Gewalt in Familien und Beziehungen führen. „Die Situation kann zu erhöhtem Stress führen“, sagte die Psychologin Anja Stiller vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen. Berlins Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) rechnet deshalb mit einer deutlichen Zunahme der häuslichen Gewalt, wie er der Deutschen Presse-Agentur sagte. Wenn in belasteten Familien noch (weitere) soziale Nöte, wie finanzielle Existenzangst, zum Beispiel durch Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, Privatinsolvenz, oder andauernde menschliche Nähe auf engstem Raum hinzukommen, könnte die Situation in vielen Fällen schnell kippen. Und das eher unbemerkt, als es zu „normalen Zeiten“ der Fall wäre. Denn zum einen könnten Familien eine mögliche Infektion als Ausrede nutzen, Besuche durch das Jugendamt abzulehnen. Zum anderen könnten örtliche Jugendämter ihrer Arbeit aus Gründen der Kontaktbeschränkung nicht immer im vollen Umfang nachgehen. Das Jugendamt München rechnet beispielsweise mit einem deutlichen Anstieg der Frauen- und Kindernotrufe in den kommenden beiden Wochen.
„Nicht nur die Wirtschaft, auch die Familie braucht jetzt ein Hilfsprogramm, wenn sie nicht zerstört werden soll“, sagte Klaus Hurrelmann, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler an der Hertie School in Berlin. Familien würden „einem Stress-Test noch nie gekannten Ausmaßes unterworfen“. Besonders arme Haushalte bräuchten nun finanzielle Unterstützung. Zudem seien „soziale Hilfen für alle, die jetzt überfordert sind“, nötig. Hurrelmann forderte zudem Informationskampagnen für Eltern und Kinder „zur Bewältigung der enormen Herausforderungen im plötzlich völlig veränderten Familienleben“.

Farina Haase,
Apothekerin/Online-Redaktion

Quelle: dpa

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