© Rawpixel / iStock / Getty Images

Die Sinne

BEGEGNUNG DURCH TASTEN

Die Haut nimmt eine Fläche von etwa zwei Quadratmetern ein. Sie verfügt über verschiedene Sinneszellen, mit denen der Mensch Reize wie Schmerz, Kälte oder Berührungen empfindet.

Seite 1/1 4 Minuten

Seite 1/1 4 Minuten

Die Haut stellt das größte Organ des menschlichen Körpers dar, dient dem Schutz vor äußeren Einflüssen und reguliert die Temperatur, etwa durch Schweißbildung. Sie verfügt außerdem über den Tastsinn, der sich, im Gegensatz zu anderen Sinnen bereits im Mutterleib ausbildet. Der Fötus entwickelt durch das Tasten seines eigenen Körpers im Mutterleib ein neuronales Netzwerk. Es entsteht ein Körperschema, sodass Lebewesen auch mit geschlossenen Augen wissen, wo vorne, hinten, oben und unten sind. Während sich andere Sinne, wie beispielsweise der Sehsinn, nachts im Schlaf ausschalten, ist der Tastsinn stets aktiviert. Er scheint auch der Sinn zu sein, der kurz vor dem Tod als letztes verloren geht.

Lernen durch Tasten Ein Neugeborenes nimmt sich zunächst über den Hautkontakt zur Mutter wahr und lässt sich darüber trösten. Zu Beginn des Lebens greifen Babys ständig nach verschiedenen Gegenständen und lernen auf diese Weise, mit ihnen umzugehen. Unermüdlich erforschen sie ihre Umwelt über den Tastsinn, noch bevor sie ihre ersten Worte plappern. Bis zum siebten Lebensjahr lernen Kinder laut dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget durch Spiel, Imitation und Berührungen. Im Laufe der Zeit wird der Vorgang des Tastens zur Routine und erfordert kaum noch Hirnaktivität.

Positiver Einfluss Die haptischen Sinneswahrnehmungen sind schließlich feste Bestandteile des Alltags: Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Menschen sich unbewusst circa 800 Mal täglich selbst im Gesicht berühren. Selbstberührungen, wie etwa an die Nase fassen, das Kinn reiben oder über die Wangen streichen, geschehen spontan und nehmen bei Stress zu. Laut Angaben des Leipziger Haptikforschers Martin Grunwald dienen sie dazu, den Organismus nach Belastungen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Es ist außerdem bekannt, dass sich Berührungen auch im Alter positiv auswirken können: Wer regelmäßig berührt wird, erleidet weniger Schmerzen, ist entspannter und verfügt über ein stabileres Immunsystem.

Tastsinn als Orientierungshilfe Menschen verschaffen sich mit Hilfe des Tastsinns Informationen über die Gestalt, Beschaffenheit und Oberfläche von Objekten. Es ist beispielsweise möglich, mit geschlossenen Augen durch das Tasten einen Apfel von einer Birne zu unterscheiden. Das Befühlen und Betasten ist auch bei totaler Dunkelheit oder bei eingeschränkter Sicht von Vorteil und schafft Informationen, die dem Auge in diesen Situationen nicht zugänglich sind. Taktile Empfindungen der Hautoberfläche werden als Exterozeption bezeichnet, dazu zählen Berührungen, Temperatur, Vibration, Schmerz oder Druck.

Taktile Reize, die der Körper passiv aufnimmt, sind extern, kommen somit durch Berührungen von außen wie bei einer Massage zustande, während haptische Reize durch das eigene Greifen entstehen, also aktiv gesteuert werden. Damit der Organismus zwischen den unterschiedlichen Reizen differenzieren kann, besitzt er verschiedene Rezeptoren. Die Sinneszellen und Nervenenden sitzen unterschiedlich tief in den Hautschichten, manche sind auf Wärme- und Kältereize spezialisiert, andere reagieren auf Schmerzen oder feinste Berührungen. Die Rezeptoren nehmen die Signale von außen auf, leiten sie als elektrische Impulse an das Rückenmark und schließlich an das Gehirn weiter. Die größten Rezeptorendichten befinden sich an den Lippen, den Fingerkuppen, den Genitalien sowie an der Zunge.

Der Tastsinn ist selbst im Schlaf aktiviert und wird bereits im Mutterleib ausgebildet.

Von Streichen bis Stoßen Die Mehrheit der Oberflächensensoren stellen die sogenannten Mechanorezeptoren dar. Zu ihnen zählen die Meissner-Tastkörperchen, die leichte Druckempfindungen wie Streicheln detektieren. Die Ruffini-Körperchen sind im tieferen Bereich der Lederhaut lokalisiert, messen Spannungen und Druckveränderungen, wie beispielsweise beim Stoßen. Die Merkel-Zellen in der Epidermis wirken ebenfalls als Druckrezeptoren, während die Vater-Pacini-Körperchen relativ große Mechanorezeptoren der Unterhaut sind und Vibrationsempfindungen vermitteln. Die Thermorezeptoren sind in der Lage, Temperaturen sowie deren Veränderungen zu spüren, die polymodalen Nozizeptoren (Schmerzrezeptoren) sprechen auf thermische, chemische und mechanische Reize an.

Mit Berührung heilen Der Tastsinn gilt als wichtigstes Sinnesorgan – ohne Hautkontakt könnten Menschen nicht überleben. Berührungen beeinflussen auch die Gesundheit positiv, dennoch wird der Erforschung des Tastsinns nur von wenigen Wissenschaftlern Beachtung geschenkt. Der Haptikforscher Grunwald untersuchte, wie sich haptische und taktile Wahrnehmungen heilungsfördernd einsetzen lassen. Er geht davon aus, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen, psychischen Beschwerden und Übergewicht sowie Schreibabys von haptischen und taktilen Wahrnehmungen profitieren könnten.

Für magersüchtige Patienten entwickelte er Neopren-Anzüge, damit Betroffene ihren Körper in den tatsächlichen Ausmaßen spüren und das unangemessene, von Übergewicht geprägte Körperbild ablegen. Außerdem fand er heraus, dass zappelige Kinder sich beruhigen, wenn sie Sandwesten tragen, da sich der Druck wie eine permanente Umarmung anfühlt. Derzeit forscht Grunwald gemeinsam mit der Neonatalogie am Uniklinikum Leipzig daran, wie man Atemaussetzer von Frühgeborenen rasch rückgängig machen kann. Normalerweise setzt die Atmung der Babys bei menschlicher Berührung der Fußsohle oder des Rückens wieder ein. Ziel der Wissenschaftler ist es, eine Manschette zu entwickeln, welche den menschlichen Kontakt simuliert.

Fingerspitzengefühl Von der hohen Sensibilität beim Tasten, speziell an den Fingerspitzen, profitieren auch Personen mit eingeschränkter Sehfähigkeit. Bei der Blindenschrift ist jeder Buchstabe durch ein Muster, bestehend aus einem bis sechs Punkten, repräsentiert. Die Punkte haben einen Durchmesser sowie eine Höhe von etwa einem Millimeter und liegen in einem Abstand von 2,3 Millimetern voneinander entfernt. Diesen geringen Abstand können lediglich die Fingerspitzen sowie die Zungen-Lippen-Region auflösen, mit den Daumenballen ist es nicht möglich, die Braille-Schrift zu entziffern.

In besten Händen Menschen mit Sehbehinderungen haben in der Regel einen überlegenen Tastsinn, den man sich bei der Brustkrebsvorsorge zunutze machen kann. So tasten sogenannte Medizinisch-Taktile Untersucherinnen (MTU) die weibliche Brust auf Tumore ab, denn sie erkennen aufgrund ihrer ausgeprägten Sensibilität bereits kleinste Veränderungen. Sehbehinderte und blinde Frauen können bei der Initiative „discovering hands“ im Rahmen einer neunmonatigen Qualifizierung in die Taktilographie eingeführt werden, um schließlich als MTU eine ärztliche Assis- tenztätigkeit auszuführen.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 04/2020 ab Seite 50.

Martina Görz, PTA, M. Sc. Psychologie und Fachjournalistin

×