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Darreichungsformen

AUSTAUSCH OHNE LANGZEITFOLGEN?

Laut Rahmenvertrag sind Tabletten oder Kapseln mit veränderter Wirkstofffreisetzung fast willkürlich austauschbar. Doch die verschiedenen Retardformulierungen verändern mehr als nur die Wirkdauer.

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Einer der wichtigsten Orientierungspunkte für den Erfolg einer Langzeittherapie ist das Erreichen des pharmazeutischen Fensters. Dieses beschreibt die Konzentration des Wirkstoffs im menschlichen Körper. Ist die Dosis des eingesetzten Wirkstoffs zu hoch, wird der toxische Bereich eines Arzneistoffs erreicht. Ein erhöhtes Potenzial für Nebenwirkungen ist die Folge. Andererseits bedeutet zu wenig Wirkstoff, dass die Therapie nicht anschlägt. Bei Wirkstoffen mit einem sehr großen therapeutischen Fenster spielen die Bereiche über und unter dem therapeutischen Fenster eine untergeordnete Rolle. Die betroffenen Patienten nehmen täglich eine Tablette oder Kapsel zu sich.

Nach der Einnahme eines Wirkstoffs steigt die Konzentration im Körper so hoch an, dass der Abbau über die nächsten 24 Stunden nur bis in den unteren Bereich des therapeutischen Fensters fällt. Die Therapie zeigt somit guten Erfolg mit wenigen Möglichkeiten für potenzielle Fehlerquellen. Bei anderen Wirkstoffen wie Schleifendiuretika ist keine länger anhaltende Wirkung erwünscht. Ein Wirkstoffspiegel, der über den Tag in den Bereich unter dem therapeutischen Fenster fällt, ist einkalkuliert. Bei Arzneistoffen mit kleineren therapeutischen Fenstern, die eine gleichbleibende Konzentration für einen Therapieerfolg benötigen, sieht das Ganze etwas anders aus. Eine Dosis, die einmalig eingenommen wird, würde eine Wirkstoffkonzentration im toxischen Bereich bedeuten.

Als praxisferne Lösung kann der Patient mehrere geringdosierte Tabletten über den Tag verteilt einnehmen. Diese Möglichkeit ist allerdings nicht im Sinne der Patienten. Ein stressiger Alltag oder ältere multimorbide Patienten würden die Einnahme vergessen oder wären überfordert. Die Therapie würde nur bei den wenigsten Patienten den gewünschten dauerhaften Erfolg erzielen. Zum Einsatz kommen daher Tabletten oder Kapseln mit veränderter Wirkstofffreisetzung. In der Lauer-Taxe als RET oder REK gekennzeichnet, unterscheiden sich die Tabletten allerdings signifikanter voneinander als die Abkürzungen vermuten lassen. Einen Ausschnitt davon, was der Markt zu bieten hat und wie die Kunden vor dem willkürlichen Austausch zu schützen sind, soll in diesem Artikel erläutert werden.

Systeme mit veränderter Wirkstofffreisetzung Beginnend bei den Pelletsystemen ist „Antra® MUPS“ ein bekanntes Beispiel. MUPS als Abkürzung für „Multiple Unit Pellet System“ erläutert die veränderte Freisetzung. Die Mikropellets enthalten den eigentlichen Wirkstoff. Sie werden mit einem Trägerstoff wie beispielsweise Cellulose in Tablettenform gepresst und mit einem wasserlöslichen Lackfilm überzogen. Auch dann, wenn der Lackfilm im Magen zerfällt und die Mikropellets freigibt, ist der Wirkstoff immer noch sicher in den Pellets verwahrt, die mit unterschiedlichen Überzügen (z. B. Eudragit®) versehen wurden. So wandert der Wirkstoff geschützt in den Darm und setzt je nach Überzug seinen Wirkstoff mehr oder weniger schnell an die Umgebung frei.

Eingesetzt wird die Methode auch in allen Präparaten mit dem Zusatz „ZOK“. Als Beispiel wird Metoprololsuccinat als „Beloc® ZOK“ vermarktet. ZOK als Abkürzung für „Zero Order Kinetik“ beschreibt eine konstante Freisetzungsrate unabhängig von der Ausgangskonzentration. Die Tablette zerfällt über einen festgelegten Zeitraum in ihre einzelnen Pellets, die dann wiederum den Wirkstoff freisetzen. Eine weitere Variante der Retardform bilden die sogenannten „OROS“, die oralen, osmotischen Systeme. Wie der Name vermuten lässt, erfolgt die Wirkstofffreisetzung hierbei mittels Osmose. Unterschieden werden Ein- und Zweikammersysteme. Das Einkammersystem beruht auf einer Mischung des Wirkstoffs und eines stark osmotischen Hilfsstoffs wie Natriumchlorid oder Mannitol.

Die Mischung wird mit einem semipermeablen Film überzogen, der Wasser nach innen durchlässt, aber nicht wieder freigibt. Zuletzt wird ein Loch mittels Laser in den Überzug gebohrt. Durch dieses Loch wird nach der Einnahme der gelöste Wirkstoff gleichmäßig nach draußen gedrückt, sobald Wasser in das Tabletteninnere gezogen wird. Das Zweikammersystem funktioniert ähnlich. Der Unterschied besteht darin, dass Wirkstoff und Hilfsstoff in getrennte Kammern gefüllt werden. Das Loch wird in die Wirkstoffkammer gebohrt. Der Wirkstoff wird langsam durch das Loch nach außen gedrückt sobald sich das Volumen des Hilfsstoff durch die Aufnahme von Wasser vergrößert. Die letzte Gruppe bilden die Matrixsysteme. Der Wirkstoff wird hierbei fest in eine Matrix eingebettet, die aus verschiedenen Hilfsstoffen wie Wachs, Fetten oder Polymeren besteht. Der Wirkstoff wird freigesetzt, wenn die Matrix langsam durch die entsprechenden Verdauungssäfte aufgelöst oder durch Diffusion nach außen gezogen wird.

Unterschieden werden drei Arten von Matrizen. Bei der homogenen Matrix muss der Wirkstoff in der entsprechenden Matrix gelöst werden können. So diffundiert er langsam nach außen. Bei der heterogenen Matrix werden Poren eingebaut, in die der Wirkstoff gefüllt wird. So kann an den Rand der Matrix eine Initialdosis gesetzt werden und ins Innere eine sogenannte Depotdosis, die später freigesetzt wird. Der Vorteil dieser Variante ist, dass die Freisetzungsgeschwindigkeit unabhängig von physiologischen Variablen ist. Eine dritte Variante ist die Hydrogelmatrix. Die Matrix besteht hier aus dem Wirkstoff und nichtverdaulichen, hydrophilen Quellstoffen. Der Aufbau sorgt für die Abgabe einer Initialdosis. Dann verhindert eine Gelbarriere die weitere Abgabe des Wirkstoffs. Sobald diese Gelbarriere aufgelöst ist, wird wieder Wirkstoff freigesetzt. Die Dauer, die benötigt wird, um die Gelbarriere zu beseitigen, kann durch den Polymerisationsgrad des Quellstoffs nach Belieben gesteuert werden.

Beratungshinweise

Retardpräparate wirken nicht immer einfach nur länger. Es können sowohl eine gleichmäßig verlangsamte, eine gestaffelte sowie eine verzögerte Freisetzung dahinterstecken. Nicht alle Hüllen von Tabletten mit veränderter Wirkstofffreisetzung lösen sich auf. Achtung: Trägersysteme, die im Stuhl gefunden werden, können Kunden verunsichern. Weisen Sie Ihre Kunden darauf hin, dass diese Hüllen keinen Wirkstoff mehr enthalten.

Compliance Alle Weiterentwicklungen und Therapievereinfachungen sind nutzlos, wenn der Patient nicht hinter der Therapie steht. Vor allem der Austausch altbekannter Präparate lässt viele Kunden an der Therapie zweifeln. Im schlimmsten Fall wird die Therapie abgelehnt. Da die eingesetzten Retardsysteme in der Lauer-Taxe nicht einsehbar sind, können Sie im Fall des Austauschs mit der Begründung „Galenik“ den Rabattvertrag aussetzen. Andererseits müsste für jeden betroffenen Patienten einzeln in der Firma angerufen werden, um die genaue Freisetzung herauszufinden. Da dieses Vorgehen alles andere als alltagstauglich ist, bleiben nur pharmazeutische Bedenken als Lösung.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 09/2020 ab Seite 26.

Manuel Lüke, Apotheker und PTA-Lehrer für Gefahrstoffkunde

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