Repetitorium

ARZNEIMITTELRISIKEN – TEIL 1

Absolute Sicherheit beim Einsatz von Medikamenten wird es nie geben. Ziel kann und muss es aber sein, das von Arzneimitteln naturgemäß ausgehende Risiko zu minimieren. Dieses Repetitorium erläutert hierzu wesentliche Grundlagen.

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Schon Hippokrates riet zu einem vorsichtigen Umgang mit Arzneistoffen und verlangte eine gründliche Untersuchung des Patienten als Vorbedingung jeder Medikation. Theophrastus Bombastus von Hohenheim, besser bekannt unter dem latinisierten Namen Paracelsus (1493 bis 1541), postulierte „Allein die Dosis macht das Gift“ und sprach dabei die Janusköpfigkeit jedes wirksamen Pharmakons an.

Dass der Einsatz von Arzneimitteln, gerade wenn diese systemisch eingesetzt werden, neben den erwünschten Hauptwirkungen auch unerwünschte Nebenwirkungen haben kann, Nutzen und Risiko deshalb immer sorgfältig gegeneinander abzuwägen sind, gehörte also schon früh zum gesicherten Wissensstand. So entstand auch bereits 1877 in Großbritannien eine Kommission zur Erfassung von Arzneimittelnebenwirkungen. Eine entsprechende Sensibilisierung in der breiten Öffentlichkeit erfolgte allerdings erst im Laufe des 20. Jahrhunderts, gefördert durch bedauerliche schwerwiegende Arzneimittelnebenwirkungen und Arzneimittelskandale.

Hierunter fällt die Anwendung des giftigen Lösungsmittels Diethylenglycol in einem Sulfonamidpräparat („Sulfanilamidkatastrophe“) in den USA 1937, wobei dieses Arzneimittelhilfsmittel auch in afrikanischen Ländern und Indien bis in die 1990er-Jahre hinein immer wieder für Todesfälle sorgte. In Deutschland mit am bekanntesten ist die „Contergan®-Katastrophe“ 1961 mit dem 1957 eingeführten Schlafmittel Thalidomid. Hinzu traten – früher wie heute – Gefahren durch fahrlässiges oder bewusst schädigendes Verhalten – wozu Quacksalberei, mangelnde Qualität von Ausgangsstoffen, Probleme beim Übergang von der Individualanfertigung in der Apotheke zur industriellen Massenproduktion oder die mittlerweile sogar globale Ausmaße annehmenden Arzneimittelfälschungen gehören.

Strengere Regelungen durch Verschärfung von Bestimmungen in Arzneimittelbüchern, die Entwicklung von Vorschriften für die Herstellung, Prüfung und den Vertrieb von Arzneimitteln aus Massenfertigung und weitere regulatorische Instrumentarien bildeten sich allmählich heraus. Jedoch erst seit den 1960/70er-Jahren existiert in praktisch allen entwickelten Staaten vor der Markteinführung eines Präparates die Zulassungspflicht durch staatliche Behörden. Diese haben die vom pharmazeutischen Unternehmer vorzulegenden Unterlagen anhand der Kriterien von Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit streng zu überprüfen.

Die Arzneimittelskandale führten vor Augen, wie wichtig die kontinuierliche Überwachung jedes Arzneimittels und die ständige Anpassung an den Stand des Wissens für die Abwehr von Arzneimittelrisiken sind. Deshalb wird der Arzneimittelüberwachung ab Markzulassungszeitpunkt heute zusätzlich besondere Bedeutung beigemessen.

Pharmakovigilanz – was ist das? Darunter (griechisch: pharmacon = Heilmittel, Gift; lateinisch: vigilantia = Wachheit, Schlauheit) wird die laufende und systematische Überwachung der Sicherheit eines Fertigarzneimittels für Mensch oder Tier verstanden, mit dem Ziel, dessen unerwünschte Wirkungen zu entdecken, zu beurteilen und zu verstehen, um entsprechende Maßnahmen zur Risikominimierung ergreifen zu können. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) umfasst die Pharmakovigilanz

  • Analyse und Abwehr von Arzneimittelrisiken,
  • Aktivitäten, die zur Entdeckung, Beurteilung sowie zum Verständnis und zur Vorbeugung von unerwünschten Wirkungen oder anderen Problemen in Verbindung mit Arzneimitteln dienen,
  • Risikomanagement, Vorbeugung von Therapiefehlern, Vermittlung von Arzneimittelinformationen sowie
  • Förderung der rationalen Arzneimitteltherapie.

Arzneimittelsicherheit – ein hohler Begriff? Um die Überwachung der Sicherheit von Arzneimitteln, also Pharmakovigilanz, sicherzustellen, existiert heutzutage ein umfassendes System. Die europarechtlichen Rechtsgrundlagen hierfür beruhen auf der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel, der Verordnung (EG) 726/2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln, den Pharmacovigilance Guidelines sowie dem Volume IX der „Rules Governing Medicinal Products in the EU“. Zudem ist die Richtlinie 2001/20/EG sowie das Arzneimittelgesetz (AMG) zu beachten.

Trotz der Fülle von Vorschriften ist der Begriff „Arzneimittelsicherheit“ gesetzlich nicht definiert. In der Wissenschaft versteht man darunter die Gesamtheit der Faktoren und Prozesse, die geeignet sind, die Arzneimittelanwendung so zu gestalten, dass nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft ein optimaler therapeutischer Effekt erzielt wird und bei bestimmungsgemäßem Gebrauch der Nutzen das Risiko übersteigt.

Die Pharmakovigilanz setzt konsequenterweise schon bei der Entwicklung eines neuen Arzneimittels an, sie ist im Weiteren Voraussetzung für die Zulassung des Arzneimittels und garantiert zuletzt im Rahmen von Anwendungsbeobachtungen, so genannten non-interventional-studies (NIS), die Unbedenklichkeit (= Sicherheit) des Arzneimittels in der breiten Anwendung.

BEISPIEL FÜR ARZNEIMITTELRISIKEN
+ Nebenwirkungen,
+ Wechselwirkungen mit anderen Mitteln,
+ Resistenzbildung,
+ Missbrauch,
+ Fehlgebrauch, insbesondere die nach dem Stand der Wissenschaft nicht vertretbare Anwendung eines Arzneimittels durch den Arzt,
+ Gewöhnung, Abhängigkeit,
+ Mängel der Qualität, auch technischer Art, der Behältnisse und äußeren Umhüllungen, der Kennzeichnung und der Fach- und Gebrauchsinformationen,
+ Arzneimittelfälschungen,
+ nicht ausreichende Wartezeit bei Tierarzneimitteln sowie
+ potenzielle Umweltrisiken aufgrund der Anwendung eines Tierarzneimittels.

Da mit dem Begriff der Arzneimittelsicherheit zwangsläufig auch die Haftung des pharmazeutischen Unternehmers verknüpft ist, besteht ein großes Eigeninteresse der pharmazeutischen Industrie an der ständigen Optimierung des Standards der Pharmakovigilanz durch die Zulassungs- und Überwachungsinstitutionen.

Trotz – oder gerade wegen – der hohen Standards im Bereich der Arzneimittelsicherheit kommt es in Deutschland immer wieder zu Rückrufaktionen. Diese tragen dazu bei, dass die Pharmakovigilanz in Deutschland immer wieder kritisch hinterfragt wird. So erarbeitete die EU-Kommission 2007 umfangreiche Vorschläge, die das europäische Pharmakovigilanzsystem noch effizienter gestalten sollen.

Im gleichen Jahr legte das Bundesgesundheitsministerium einen Aktionsplan zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) vor, der derzeit fortgeschrieben wird. Sein Ziel ist es, durch vielfältige Maßnahmen die Sicherheitskultur in der Arzneimitteltherapie zu verbessern und so vermeidbare Schäden durch Arzneimittel weitgehend zu verhindern.

Erste Hürde: die Arzneimittelzulassung Heute herrscht für Fertigarzneimittel gemäß § 21 Abs. 1 AMG eine Zulassungspflicht, also ein grundsätzliches Verbot, Fertigarzneimittel ohne behördliche Erlaubnis in Verkehr zu bringen. In Deutschland sind als nationale Behörden hierfür hauptsächlich das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sowie das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) für Blutprodukte und Impfstoffe zuständig. Für Tierarzneimittel steht zusätzlich das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, für immunologische Tierarzneimittel gegen exotische Tierseuchen das Friedrich-Löffler-Institut (FLI) parat.

Im Rahmen der EU-Harmonisierung existiert für eine Reihe von Arzneimitteln – etwa für neuartige Therapien, monoklonale Antikörper, Medikamente zur Behandlung von AIDS, Diabetes mellitus, neurodegenerative Erkrankungen, Krebs, Autoimmunerkrankungen, Immunschwäche, Viruserkrankungen – die Pflicht zur zentralen europäischen Zulassung bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA). Voraussetzung für die Zulassung eines Arzneimittels sind eine angemessene pharmazeutische Qualität, therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit sowie ein günstiges Nutzen- Risiko-Verhältnis.

Wo die prüfende Behörde die Notwendigkeit dazu sieht, nimmt sie auch Qualitätsprüfungen im eigenen Labor oder Inspektionen der Unternehmen vor Ort vor beziehungsweise lässt solche in ihrem Auftrag von dritter Seite ausführen. Ganz wichtig ist, ob die Studien nach den Regeln der „Guten Arbeitspraxis“ durchgeführt wurden. Der strenge Weg hin zur Zulassung eines Arzneimittels beinhaltet unter anderem die gesamte vorklinische wie klinische Entwicklung in den Phasen I bis III mit Untersuchung der erwünschten Wirkungen, aber auch schon der Sammlung und Erfassung bis dahin auftretender unerwünschter Nebenwirkungen.

Nach § 4 Abs. 3 des Arzneimittelgesetzes (AMG) handelt es sich bei den unerwünschten Wirkungen um die beim bestimmungsgemäßen Gebrauch eines Arzneimittels auftretenden schädlichen unbeabsichtigten Reaktionen. Die vom Arzneimittelgesetz geforderte „Unbedenklichkeit“ wird einem Arzneimittel grundsätzlich nur dann bescheinigt, wenn im Rahmen der Nutzen-Risiko-Abwägung der therapeutische Nutzen die mit seinem Gebrauch verbundenen Risiken überwiegt. So sind beispielsweise in der Abwägung bei einem Krebsmedikament schwerwiegendere Nebenwirkungen eher hinzunehmen als bei einem Mittel gegen Obstipation. Im Falle eines ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses wird dem betreffenden Arzneimittel allerdings die Zulassung versagt.

Qualitäts-Grenzen der Zulassung Generell gilt: Zum Zulassungszeitpunkt können die Daten über die Sicherheit eines Arzneimittels noch nicht vollständig sein. Schließlich werden die Arzneimittel bis dahin nur an einer vergleichsweise geringen Patientenzahl klinisch erprobt und diese Teilnehmer wurden für die einzelnen klinischen Phasen auch unter speziellen Kriterien für die klinische Prüfung ausgesucht.

Seltene oder sehr seltene unerwünschte Wirkungen und viele Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln oder Lebensmitteln können erst in der breiten Anwendung für die erkrankte Bevölkerung erkannt werden. In anderen Fällen geben erst neue wissenschaftliche Erkenntnisse Hinweise auf Probleme. Eine kontinuierliche Überwachung jedes Arzneimittels und die ständige Anpassung an den Stand des Wissens sind deshalb wesentlich für die Abwehr von Arzneimittelrisiken.

Zusätzliche Informationen:

Die kontinuierliche Überwachung

Arzneimittelrisiken und Qualitätsmängel eines Arzneimittels können beim pharmazeutischen Unternehmer, im Vertriebsweg, bei amtlichen Untersuchungen oder teilweise auch erst beim Endverbraucher festgestellt werden. Um eine mangelhafte Qualität eines Arzneimittels auszuschließen und damit das potenzielle Arzneimittelrisiko zu minimieren, existieren für die Herstellung (Notwendigkeit einer Herstellungserlaubnis, § 13 AMG) sowie die Vertriebswegregelungen (§§ 43 ff. AMG) für pharmazeutische Unternehmer strenge Anforderungen.

Zudem existiert eine Anzeigepflicht des pharmazeutischen Unternehmers / Zulassungsinhabers über Nebenwirkungsverdachtsmeldungen (§ 29 Abs. 1 AMG). Ebenso sind Maßnahmen und Sanktionen bei akuter Gefahr beziehungsweise bei Normverletzungen (§§ 64 ff. und 95 ff. AMG) festgelegt. Die Beurteilung eines Qualitätsmangels und das Einleiten erforderlicher Gegenmaßnahmen bis hin zum Rückruf oder einer öffentlichen Warnung erfolgt nach bundesweit einheitlichen Grundsätzen. Darüber hinaus ist ein europaweites Warnsystem etabliert, mit dessen Hilfe die Informationen kurzfristig zwischen den Mitgliedsstaaten ausgetauscht werden.

In Deutschland überwachen die Landesüberwachungsbehörden – in der Regel die Regierungspräsidien und in den Stadtstaaten der Senator für Gesundheit – durch Inspektionen die Pharmazeutischen Unternehmer und Arzneimittelhersteller. Außerdem überprüfen die Zulassungsbehörden im Rahmen der vorgeschrieben alle fünf Jahre stattfindenden Zulassungsverlängerungen, ob die Zulassungsvoraussetzungen, insbesondere was Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Qualität der Arzneimittel betrifft, nach wie vor gegeben sind. Hierzu ist vom pharmazeutischen Unternehmer ein Bericht vorzulegen, der Angaben darüber zu enthalten hat, ob und in welchem Umfang sich die Beurteilungsmerkmale für das Arzneimittel geändert haben (§ 31 Abs. 2 AMG).

Um diese Behörden in die Lage zu versetzen, ihren gesetzlichen Aufgaben nachzukommen, ist der pharmazeutische Unternehmer / Zulassungsinhaber zudem verpflichtet, alle Änderungen in den Angaben und Unterlagen des Zulassungsantrages sowie alle Nebenwirkungsverdachtsfälle den Zulassungsbehörden unverzüglich anzuzeigen (§ 29 Abs. 1 AMG).

Schließlich muss der pharmazeutische Unternehmer bei Arzneimitteln, die hinsichtlich ihrer Wirkungen nicht allgemein bekannt sind und deshalb der automatischen Verschreibungspflicht nach § 49 AMG unterliegen, nach Ablauf von zwei Jahren nach Zulassung der Zulassungsbehörde einen Erfahrungsbericht vorlegen mit Angaben über die abgegebenen Mengen, neue Erkenntnisse über Wirkungen, Art und Häufigkeit von Nebenwirkungen, Gegenanzeigen, Wechselwirkungen mit anderen Mitteln, eine Gewöhnung, eine Abhängigkeit oder einen nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch (§ 49 Abs. 6 AMG).

Um all diese Anforderungen zu gewährleisten, müssen die Arzneimittelhersteller somit ein komplexes System zur Erfassung und Bewertung von Mängeln und unerwünschten Wirkungen betreiben (firmeninternes Pharmakovigilanzsystems), welches schon im Zulassungsantrag anzugeben und detailliert zu beschreiben ist. Zu diesem erforderlichen Qualitätsmanagementsystem gehört auch die Beschäftigung eines Stufenplanbeauftragten. Was sich genau hinter dieser Person verbirgt, welche Anforderungen bestehen, welche Stellen am Stufenplan alle beteiligt sind und welche Konsequenzen dies für den Arzneimittelverkehr hat, lesen Sie im zweiten Repetitoriumsteil.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 10/11 ab Seite 86.

Dr. Eva-Maria Stoya, Apothekerin / Journalistin

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