Die blaue Apotheke

APOTHEKE OZEAN

Bei Pharmakologen können Schwämme mehr als nur Tafeln wischen. Das Potenzial der Wirkstoffe aus Meerestieren ist enorm, einige haben es bis zum Medikament geschafft.

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Schwamm hin, Schwamm her – wer sich dabei nur ans Tafelputzen und Schwammschlachten seiner Schulzeit erinnert, der irrt sich gewaltig. Der allseits bekannte Badeschwamm ist lediglich das Skelett eines Tieres, das in den Weltmeeren noch rund 8000 andere Verwandte hat. Und in vielen Mitgliedern der Schwammverwandtschaft steckt viel mehr als nur ein praktisches Gerüst zur Reinigung – im lebenden Zustand produzieren sie eine Vielzahl hochwirksamer Substanzen. Deshalb werfen Pharmakologen seit Jahren ihre Netze im Meer aus. Denn in den Ozeanen liegt ein unermesslicher medizinischer Schatz verborgen, der sich als Basis für neue Arzneimittel eignet.

Die Natur steht Modell Mit allen Tricks und Finessen wird vor allem im Korallenriff eine chemische Kriegsführung zum Überleben eingesetzt. Denn Schwämme, aber auch Korallen, Moostierchen, Seescheiden und Schnecken haben keine Zähne, Krallen oder Stacheln, trotzdem wissen sie sich zu wehren: Sie verfügen über ein gigantisches chemisches Arsenal, mit dem sie Nachbarn auf Abstand halten, zurückdrängen oder gar töten können.

Bioaktive Substanzen nennen Wissenschaftler diese Naturstoffe. Mit diesen giftigen Cocktails schützen sich die Riffsiedler vor gefrässigen Fischen und anderen Räubern und verhindern, dass ihre Außenhaut von Algen, Bakterien und anderen Organismen bewachsen wird. Viele dieser toxischen Verbindungen sind daher auch von medizinischem Nutzen, da deren Wirkungsspektrum von antibakteriell und entzündungshemmend bis hin zu zelltoxisch und antiviral reicht.

Etwa 15 000 Wirkstoffe sind bereits bekannt und jährlich kommen etwa 600 neue Naturstoffe aus dem Meer hinzu. Kein Wunder, denn die geschätzte eine Million Arten unter Wasser bietet ein geradezu unerschöpfliches Feld für Entdeckungen. Tatsächlich sind heute schon hochaktive Verbindungen aus Meerestieren im klinischen Einsatz oder werden klinisch geprüft. Immerhin ein Drittel der derzeitigen Blockbuster der Pharmaindustrie sind bioaktive Substanzen oder aus ihnen abgeleitete Strukturen. Etwa 20 Pharmazeutika mit Naturstoffen sind verfügbar oder in der Endentwicklung. Hierzu zählen Mittel zur Behandlung von Krebs, HIV, Asthma, Entzündungen oder Infektionskrankheiten.

Schwamm drüber Erste Erfolge feierte man Ende der 1950er Jahre, mit den beiden aus dem karibischen Schwamm Cryptothetia crypta isolierten Nukleosiden Spongouridin und Spongothymidin. Auf Basis dieser beiden Stoffe wurde das Virostatikum Ara-A entwickelt, das bis heute bei Herpes-simplex-Infektionen angewendet wird und die tumorhemmende Substanz Ara-C, die als Zytostatikum noch heute in der Krebstherapie zum Einsatz kommt.

Verblüffende Möglichkeiten bieten zum Beispiel auch Kieselschwämme wie Suberites domuncula. Mit dem Enzym Silicatein bauen sie ein Skelett aus Biosilikat. Dieses Material könnte sich beispielsweise zur Herstellung von Knochen- und Zahnersatz eignen. Aber auch andere Meeresbewohner sind potenzielle Medikamentenlieferanten, einige haben es bereits auf den Arzneimittelmarkt geschafft.

Schneckengift lindert Schmerzen Vielleicht haben Sie ihre Gehäuse schon einmal am Strand gefunden oder im Basar gesehen. Kegelschnecken sind farbenfroh und wunderbar gemustert. Ein Signal für Forscher, denn auffallend schöne Spezies schützen sich mit Giften vor feindlichen Attacken. Kegelschnecken etwa verschießen giftbeladene Harpunen, die die Nervenfunktionen ihrer Angreifer außer Gefecht setzen. Jede der mehr als 500 Kegelschneckenarten produziert einen anderen artspezifischen Giftmix aus bis zu 200 verschiedenen Toxinen. Jeder Einzelne dieser Wirkstoffe könnte wirksam gegen Rheuma, Epilepsie, Schlaganfall oder Herzinfarkt sein.

Das als Conotoxin bezeichnete Nervengift der Kegelschnecke Conus magnus zählt dabei zu den ersten Substanzen, die es bereits bis zum Medikament geschafft hat. Es stand Modell für das Schmerzmittel mit dem Wirkstoff Ziconotid, der bei chronischen Schmerzen die Freisetzung von Schmerzmediatoren im Rückenmark hemmt, unter anderem die Substanz P.

Blaues Blut gegen Krebs Mit Immunocyanin, einem Glykoprotein, das als Keyhole Limpet hemocyanin (KLH) aus der kupferhaltigen blauen Hämolymphe der unscheinbaren kalifornischen Schlüsselloch-Napfschnecke (Meguratha crenulata) gewonnen wird, existiert ebenso ein zugelassenes Medikament, das gegen Harnblasenkrebs wirkt.

Anti-Tumorwirkstoff der Seescheide Ebenfalls auf dem Markt ist Trabectedin aus einer karibischen Seescheide (Ecteinascidia turbinata); das sind kleine, sackförmige Manteltiere (Tunicata) ohne Augen, die meist in Kolonien am Meeresgrund festsitzen. Das Alkaloid blockiert das multi-drug resistence (MDR)-Gen, das bei einigen Krebspatienten für eine Resistenz der Tumore gegen viele Präparate sorgt.

Muschelextrakt gegen Rheuma Auch der Lipidextrakt der neuseeländischen Grünlippmuschel (Perna canaliculus) findet wegen seiner entzündungshemmenden und schmerzstillenden Wirkung als Nahrungsergänzungsmittel bei Gelenkentzündung und Arthrose Anwendung.

Weitere Kandidaten Pseudopterosin ist ein Stoff, der von der karibischen Hornkoralle Pseudopterogorgia elisabethae produziert wird. Die Substanz wirkt entzündungshemmend und scheint vielversprechend bei der Behandlung von Schuppenflechte und Neurodermitis, aber auch bei Rheuma oder Asthma zu sein. In kosmetischen Cremes wird sie schon verwendet.

Das Moostierchen Bugula neritina – ein pflanzenartiges Geschöpf, das aussieht wie ein herrenloses Toupet und im Golf von Kalifornien gedeiht, bildet Bryostatin, das nicht nur Feinde vertreibt, sondern auch das Wachstum von Krebszellen hemmt. Vor allem bei Leukämie soll der Wirkstoff erfolgreich sein. Kahalalide F, entdeckt in der Samtschnecke Elysia rufescens, kann Krebszellen abtöten und befindet sich in der klinischen Prüfung als Wirkstoff gegen Prostatakrebs. Squalamin – ein hormonartiger Wirkstoff aus Dornhaien, verhindert die Neubildung von Blutgefäßen, wie sie Tumore für ihre Blutversorgung brauchen. Mit diesem Mittel könnten sich Geschwülste aushungern lassen.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 02/11 ab Seite 78.

Dr. Kirsten Schuster, Medizinjournalistin

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