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Arzneistoffe

ALLES GLATT GEGANGEN

Botulinumtoxin ist seit etwa 15 Jahren in den USA und seit 10 Jahren in Deutschland zur Faltenbehandlung zugelassen. Seit 2013 hat sich die Zahl der Anwender auf eine Millionen Deutsche verdoppelt.

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Im Dezember 1895 ereignete sich im belgischen Dorf Ellezelles ein tragischer Vorfall: Nach einer Beerdigung trafen sich die Musiker einer Blaskapelle im Restaurant „Le Rustic“ zum Essen. Kurz darauf machten sich erste Vergiftungserscheinungen bemerkbar: Die Gäste hatten geweitete Pupillen, sahen doppelt, konnten sich nicht mehr artikulieren und hatten zudem Schluckbeschwerden.

Im weiteren Verlauf kam es zu Lähmungserscheinungen, schließlich verstarb ein Teil der Männer an den Folgen einer Intoxikation. Gemeinsam war ihnen, dass sie alle von dem Räucherschinken „Rustica“ gegessen hatten. Dieser wurde, ebenso wie die Leichname, von Emile van Ermengen, einem Schüler von Robert Koch, untersucht. Die Ursache für die Vergiftung waren zweifelsfrei stäbchenförmige Bakterien, die den Namen Bacillus botulinum erhielten. 

Gift aus der Konserve Heute werden die Bakterien als Clostridium botulinum bezeichnet. Sie leben von der Vergärung organischer Verbindungen unter Ausschluss von Sauerstoff und befinden sich im Inneren von Schinken, Wurst oder in Konserven. Die Keime produzieren ein starkes Nervengift, das Botulinumtoxin (BTX). Nach dem Verzehr kontaminierter Konserven können schwere Nahrungsmittelvergiftungen (Botulismus) auftreten. Allerdings lässt sich der Befall von Lebensmitteln durch Erhitzen sowie durch entsprechende Hygienemaßnahmen weitgehend vermeiden.

Vom Gift zum Therapeutikum Das Nervengift gehört zu den stärksten Toxinen überhaupt – schon wenige Milliardstel Gramm können tödliche Lähmungen hervorrufen. 1822 schrieb Justinus Kerner bereits „Das Fettgift – Ein Beytrag zur Untersuchung des in verdorbenen Würsten giftig wirkenden Stoffes“ und nannte erstmals die Symptome bei Lebensmittelvergiftungen (Übelkeit, Erbrechen, Lichtscheu, Augenflimmern, Doppelsehen, Schluckprobleme, reduzierte Speichelsekretion).

Trotz aller negativen Wirkungen begann man in den 1970er und 1980er Jahren die Substanz medizinisch zu nutzen. 1980 wurde das Nervengift von dem Ophthalmologen A. Scott aus San Francisco zur Behandlung des Strabismus (Schielen) verwendet. Scott stellte auch fest, dass sich Botulinumtoxin zur Therapie von Lidkrämpfen eignet.

Botulinumtoxin A, ein Stoffwechselprodukt des Bakteriums, wird heutzutage in der Medizin zu zahlreichen therapeutischen Zwecken eingesetzt. 1992 wurde erstmals der glättende Effekt auf die Haut beschrieben, der mittlerweile die bekannteste Indikation darstellt. Botulinumtoxin ist nicht mehr nur etwas für Stars und Reiche, das Nervengift boomt seit einigen Jahren im Bereich der ethischen Indikationen.

Der Wirkstoff lässt die Haut straffer erscheinen, indem die damit behandelten Gesichtsmuskeln ihren Tonus verlieren. Denn wo sich die Muskeln nicht mehr bewegen können, da wirft die Haut keine Falten mehr. Das Life-Style-Präparat glättet die Stirn-, Lach-, Zornes- und Dekolletéfalten. Der Hautarzt oder der plastische Chirurg setzen die Spritzen genau dort an, wo die Falten sitzen. Danach ist es beispielsweise nicht mehr möglich, die Stirn zu runzeln, zu lächeln oder die Zornesfalte zu zeigen.

Die Wirkdauer beträgt zwischen drei und sechs Monaten, bis der Effekt des Giftes allmählich nachlässt. Die Praxiserfahrung hat gezeigt, dass die Abstände bei regelmäßiger Behandlung verlängert werden können, da sich die Faltentiefe durch die Muskelentspannung nachhaltig reduziert. Falten, die unabhängig von der Muskulatur entstehen, können mit BTX nicht geglättet werden.

Nebenwirkungen Die Injektion von Botulinum ist bei der Konsultation eines erfahrenen Mediziners in der Regel eine sichere Methode zur Faltenglättung. Als Folge der Behandlung kann es allerdings zu kleinen Blutergüssen oder Schwellungen kommen. Auch vorübergehendes Unwohlsein, Kopfschmerzen oder Müdigkeit wurden beschrieben, sehr selten sind allergische Reaktionen oder Hautausschlag. Auch Komplikationen wie das vorübergehende Herabhängen von Oberlid oder Augenbraue kommen nur in den wenigsten Fällen vor und können weitestgehend vermieden werden, indem man einen erfahrenen Arzt aufsucht.

Weitere Indikationen Botulinumtoxin A darf auch zur Behandlung von Erwachsenen mit idiopathisch überaktiver Blase eingesetzt werden. Betroffene leiden unter Harninkontinenz, imperativem Harndrang sowie häufigem Wasserlassen. Wenn etwa Anticholinergika keine ausreichende Linderung bringen, kann das Bakteriengift die Muskulatur lähmen und die Harnkontrolle verbessern. Wichtig ist, dass der BTX-Therapie eine gute Anamnese und Diagnostik voraus geht, um andere Erkrankungen (Harnwegsinfektionen, Blasensteine oder Blasenkrebs) auszuschließen.

Unter Lokalanästhesie wird das Nervengift an verschiedene Stellen in den Blasenmuskel gespritzt. Dieser entspannt sich, sodass sich in der Blase deutlich mehr Urin ansammeln kann – bei weniger Toilettengängen pro Tag. Darüber hinaus wird Botulinumtoxin zur Therapie von chronischer Migräne angewendet. Bei dieser vergleichsweise seltenen Form treten die Kopfschmerzen an mehr als 14 Tagen im Monat auf, davon leiden Betroffene an mindestens acht Tagen an typischer Migräne, wobei sich an den übrigen Tagen auch Spannungskopfschmerzen bemerkbar machen können.

Der Arzt setzt das Nervengift bei der BTX-Behandlung per Injektion in bestimmte Kopf- und Halsmuskeln. Oft kommt es bereits vor der Entspannung der überaktiven Muskulatur zur Linderung der Kopfschmerzen. Das empfohlene Intervall für Wiederholungsbehandlungen liegt bei vier Monaten.

Spritze gegen Achselschweiß Ein nebenbei beobachteter Effekt der Botulinum- Injektion war, dass die Haut in dem behandelten Bereich auffällig trocken wurde. Dies war der Ausgangspunkt dafür, das Neurotoxin zur Therapie einer Hyperhidrose zu verwenden. Pro Achselhöhle wird durchschnittlich zehn bis 20 Mal in die Haut eingestochen, da die Spritzen relativ schmerzhaft sind, ist der Einsatz von betäubenden Salben oder Eisspray vor der Behandlung sinnvoll. Die schweißreduzierende Wirkung tritt etwa eine Woche bis 14 Tage nach der Applikation ein, das Schwitzen lässt dann an den behandelten Körperstellen spürbar nach.

Den richtigen Mediziner auswählen BTX sollte nur von Ärzten mit geeigneter Qualifikation (Qualitätsnachweis „Qualifizierte Botulinumtoxintherapie) verabreicht werden. Urologen, Gynäkologen, plastische Chirurgen, Dermatologen und Neurologen benötigen Kenntnisse zur Handhabung des Arzneimittels, zur Anatomie der betroffenen Bereiche sowie zur Injektionstechnik.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 10/16 ab Seite 162.

Martina Görz, PTA, B. Sc. und Fachjournalistin

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