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Politik

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Ende Juni wurde das Gutachten „Bedarfsgerechte Versorgung – Perspektiven für ländliche Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche“ dem Bundesgesundheitsminister übergeben. Der Apotheken- und Arzneimittelbereich spielt diesmal eine große Rolle.

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Der Arzneimittelbereich kam in der Vergangenheit in den Gutachten kaum zum Tragen; man konnte sie regelmäßig getrost lochen und ablegen. Doch in diesem Jahr ist alles ein bisschen anders. Rund einhundert von sechshundert Seiten des Gutachtens befassen sich mit der bedarfsgerechten Arzneimittelversorgung. Im Mittelpunkt des Gutachtens steht die künftige Versorgung im ländlichen Raum in ausgewählten Leistungsbereichen.

Es zeichnet sich insgesamt ab, dass bisherige Maßnahmen bei weitem nicht ausreichen, um einer künftigen Unterversorgung in strukturschwachen Regionen entgegenzuwirken. Die Gutachter empfehlen deutlich stärkere Anreize für eine Tätigkeit in ländlichen Regionen zu setzen und gleichzeitig Maßnahmen zum Abbau von Überversorgung in Ballungsgebieten zu ergreifen.

Weniger Regulierung, mehr Wettbewerb Die Gutachter konstatieren eine vergleichsweise hohe Apothekendichte in den Städten und einen begrenzten Preiswettbewerb, der sich auf nicht verschreibungspflichtige Medikamente beschränkt. Mögliche Effizienzgewinne in der Arzneimitteldistribution werden in einer Aufhebung des Fremd- und Mehrbesitzverbotes gesehen, welches sich nach Einschätzung der Gutachter weder aus ordnungspolitischer noch versorgungspolitischer Perspektive begründen ließe.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2009, wonach das Fremdbesitzverbot geeignet ist, das Niveau der Sicherheit und Qualität der Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln sicherzustellen, wird ignoriert. Zum anderen wird eine Reform der Apothekerhonorierung vorgeschlagen, welche durch Einführung apothekenindividueller Handelsspannen erfolgen könnte. Die Honorierung des Apothekers sollte aus Sicht der Gutachter über einheitliche Apothekenfestspannen erfolgen und so bemessen sein, dass sie die durchschnittlichen Vertriebskosten und den Unternehmerlohn für die gesamte Arzneimitteldistribution abdecken.

Frei kalkulierbar sollen hingegen zusätzliche apothekenindividuelle Handelsspannen sein. Profitieren könnten Patienten durch variable Zuzahlungen. Man verspricht sich so Wettbewerb und zusätzliche Nachfrage nach günstigen Abgabepreisen zu generieren, der sich in mit Apotheken überversorgten Gebieten stärker als in strukturschwachen ländlichen Regionen entfalten und auf diese Weise Anreize zur Niederlassung in mit Apotheken schwach besetzten Gegenden führen soll.

Da reibt man sich verwundert die Augen! Kranke sollen die günstigsten Anbieter ihrer Arzneimittel suchen. Und eine zusätzliche Nachfrage nach Medikamenten soll durch günstige Preise generiert werden! Marktwirtschaft auf Kosten der Volksgesundheit …

Wo Schatten ist, ist auch Licht Weiterhin empfiehlt der Sachverständigenrat die Einbindung der Apotheken in integrierte Versorgungsformen, bei der sie beispielsweise auch Aufgaben eines gezielten Medikationsmanagements übernehmen sollen. Ein sehr sinnvoller Vorschlag des Gremiums. Wer könnte das besser als Apotheken? Auch zum Arzneimittelmarkt, zur Nutzenbewertung und zu Lieferengpässen äußert sich der Sachverständigenrat.

Kritisch sehen die Experten, dass die systematische Bewertung des Zusatznutzens patentgeschützter Bestandsmarktarzneimittel abgeschafft wurde. Mit Blick auf die Qualität der Arzneimittelversorgung sowie mögliche Kosteneinsparungen sei diese jedoch auch weiterhin erstrebenswert. Im Übrigen habe sich die Bewertung des Zusatznutzens von Arzneimitteln als Instrument bewährt, um Kostenanstiege durch neue Arzneimittel zu begrenzen und gleichzeitig die Qualität der Versorgung zu verbessern.

HINTERGRUND
Der mit ausgewiesen Experten besetzte Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat die Aufgabe, im Abstand von zwei Jahren Möglichkeiten und Wege zur Weiterentwicklung der gesundheitlichen Versorgung aufzuzeigen. Eine Reihe von Vorschlägen und Empfehlungen sind von der Gesundheitspolitik in der Vergangenheit aufgegriffen worden, wie die Kassenwahlfreiheit, die Einführung eines Risikostrukturausgleichs, die Förderung der ambulanten Pflege, die Verbesserung der Versorgung Dementer oder der Ausbau von Präventions- und Rehabilitationsleistungen.

Die Gutachter empfehlen, Kosten-Nutzen-Analysen als zusätzliches Entscheidungskriterium für die Preisfindung zuzulassen. Zudem spräche vieles für die europäische Harmonisierung der Nutzenbewertung, während die auf diesen Bewertungen basierenden Preisverhandlungen auch weiterhin in nationaler Verantwortung wahrgenommen werden sollen.

Aus pharmazeutischer Sicht scheinen viele dieser Vorschläge sinnvoll. Im Gutachten wird ferner ein Problem aufgegriffen, dass im Apothekenalltag zunehmend zum Problem wird: Lieferengpässe von Arzneimittel. Weder freiwillige Informationen der Hersteller über Engpässe, noch Konventionalstrafen und darüber hinausgehende Schadensersatzansprüche für Rabattarzneimittel konnten bisher das vielschichtige Problem lösen. Die Gutachter fordern vor diesem Hintergrund zusätzliche Regelungen für medizinisch dringend benötigte Arzneimittel, für die es keine verfügbaren therapeutischen Alternativen gibt.

ZUSATZINFORMATIONEN
Vorgeschlagen wird, eine Liste solcher Arzneimittel unter Mitwirkung der Fachgesellschaften zu erstellen. Dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte soll hierbei das zentrale Risikomanagement bei Lieferengpässen von wichtigen Arzneimitteln unterstellt und die Meldung sich abzeichnender Lieferengpässe durch pharmazeutische Hersteller grundsätzlich verpflichtend werden. Und um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen, schwebt den Sachverständigen vor, den gesetzlichen Vorschriften zur Bereitstellungspflicht bei gravierenden Verstößen mit Bußgeldern Nachdruck zu verleihen.

Welche Anregungen der Bundesgesundheitsminister letztlich aufgreifen wird, bleibt abzuwarten. Sicherlich hat die im Gutachten vorgeschlagene Überprüfung der Polymedikation multimorbider Patienten eine gute Realisierungschance; bleibt zu hoffen, dass für diese Apothekenleistung ggf. die Vergütung auskömmlich sein wird. Auch wird sich das Ministerium vermutlich mit Vorschlägen der Sachverständigen zur frühen Nutzenbewertung befassen, zumal der Koalitionsvertrag eine Weiterentwicklung der Vorschriften „bei Bedarf“ vorsieht.
 
Nicht überraschend wären zudem Nachbesserungen, insbesondere zu Mitteilungspflichten der Hersteller, um Arzneimittellieferengpässe zu minimieren. An der inhabergeführten Apotheke wird die Bundesregierung ohne Wenn und Aber festhalten. Die Vorschläge zu apothekenindividuellen Handelsspannen sind nicht geeignet, Versorgungsprobleme in der Fläche zu lösen, und werden sicherlich „gelocht“…

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 10/14 ab Seite 130.

Dr. Michael Binger, Hessisches Sozialministerium

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