Ein Kind hat sein Shirt etwas hochgezogen, man sieht das Pflaster einer Insulinpumpe auf seinem Bauch. Das Gerät hält das Kind in der Hand.
Wie gut Kinder mit ihrem Typ-1-Diabetes klarkommen, hängt stark vom Umfeld ab. © Click_and_Photo / iStock / Getty Images Plus

Pädiatrie | Typ-1-Diabetes

ZUCKERKRANKES KIND: „BETREUER DER ZWEITEN REIHE SCHULEN“

Rund 3000 Kinder in Deutschland erkranken jedes Jahr an Typ-1-Diabetes - und müssen lernen, mit dieser Tatsache zu leben. Wie gut das gelingt, hängt auch von Eltern, Erziehern und Lehrern ab.

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„Ihr Kind hat Diabetes.“ Das ist eine Schocknachricht für Eltern. Der Tübinger Kinderdiabetologe Professor Dr. Andreas Neu berichtet: „Viele sehen die Zukunftspläne einstürzen, eine lebenslange Krankheit, massive Einschränkungen im Alltag, ein chronisch krankes Kind. Die Verarbeitung des Schocks dauert etliche Zeit.“

Aber irgendwann geht der Blick nach vorn: „Die allermeisten Familien haben nach etwa einem halben Jahr gelernt, damit umzugehen, und zwar nicht nur technisch: Blutzucker messen, Insulin geben, für Notsituationen gewappnet sein“, erzählt Neu. „Sie haben dann auch gelernt: Das Leben endet nicht mit der Diagnose.“

Unser Kind kann einen Alltag leben wie andere Kinder, es kann weiter in die Kita, in die Schule gehen, Ausbildung machen, sportlich aktiv sein, reisen.

Schätzungen zufolge erkranken jährlich rund 3000 Kinder in Deutschland an Typ-1-Diabetes, insgesamt haben hierzulande mehr als 30 000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren die Stoffwechselkrankheit.

Das Erkennen eines Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen basiert auf dem Wahrnehmen simpler Symptome - Leistungseinbruch, häufiges Trinken und Wasserlassen, Gewichtsabnahme zählen dazu. Wenn solche Zeichen vorliegen, sollte eine rasche Diagnostik erfolgen.

Veraltete Ansichten führen zu Problemen
Marlies Neese engagiert sich seit Jahrzehnten für Kinder mit Diabetes und deren Eltern. Und sie leistet Aufklärung an Schulen und Kitas. „Das ist noch enormer Bedarf da“, sagt Neese. Es gibt aus ihrer Erfahrung immer wieder veraltete Ansichten zum insulinpflichtigen Diabetes bei den Lehrern und Erziehern, die es dem Kind schwer machten, einen normalen und möglichst unbeschwerten Schul- oder Kita-Alltag zu erleben. Zwei Dinge sind aus Neeses Sicht wichtig:

  • Die Lehrer und Erzieher des Kindes müssten über ein gewisses Grundwissen zum insulinpflichtigen Diabetes verfügen. Dazu zählt, eine gefährliche Unterzuckerung zu erkennen und zu wissen, was vor und während Sport, bei Klassenfahrten und sonstigen außergewöhnlichen Aktivitäten zu tun ist.
  • Sie müssten auch verstehen, so Neese, dass das Kind manchmal während des Unterrichts essen, Insulin abgeben und Blutzucker messen müsse.

Generell sollte man das Kind als „normal“ ansehen und da, wo es nötig ist, Hilfestellung geben - das wäre der Idealfall für eine gelungene Integration, sagt Neese. „Es ist noch viel Luft nach oben in diesem Bereich, wobei das mit Blick auf den deutschlandweiten Wissensstand zum insulinpflichtigen Diabetes fast noch zu milde ausgedrückt ist.“ Auch Kinderdiabetologe Neu sieht in der Schulung des Umfelds große Defizite:

Es nützt nichts, wenn ich die Eltern schule, aber das Kind ganztägig in der Kita oder Schule ist oder beim Training. Diese Betreuer der zweiten Reihe müssen auch geschult werden, und das ist in keinem Budget vorgesehen.

Vater und Mutter haben außerdem großen Einfluss darauf, wie ihr Kind mit dem Diabetes umgeht. „Sind die Eltern strukturiert und gut geschult, übertragen sie das Drama nicht auf die Kinder. Dann gehen diese auch recht vernünftig mit dem lebenslang begleitenden Diabetes um. Akzeptanz von allen Seiten beginnt mit der Aufklärung und Schulung der Eltern“, sagt Neese, die auch negative Beispiele kennt. Ihre Erfahrung ist:

Je offener mit der Tatsache umgegangen wird, dass ein Kind einen insulinpflichtigen Diabetes hat, je besser der Umgang damit.

Der Einfluss der Eltern hängt auch vom Alter des Kindes ab, wie Diabetologe Neu sagt. Vor allem Ältere könnten durch die Diagnose in ein Loch fallen, während betroffene Kinder im Kita- und Grundschulalter oft relativ schnell und problemlos zu ihrer Tagesordnung übergingen und die Erkrankung darin integrierten, so der Experte.

Neuerkrankungsrate in 25 Jahren verdoppelt
Ein Typ-1-Diabetes kann bei Kindern jeden Alters auftreten. Und es gibt eine Verschiebung, so Neu: „In den vergangenen zehn Jahren haben wir erlebt, dass sich das Erkrankungsalter immer mehr zum jüngeren Alter entwickelt.“ Nur im ersten Lebensjahr sei es eine Rarität.

Der Trend ist beunruhigend: „Die Neuerkrankungsrate hat sich in den vergangenen 25 Jahren verdoppelt, es gibt keine andere chronische Erkrankung im Kinder- und Jugendalter, die derart fortschreitet“, sagt Neu. Beim Warum stochern die Forscher noch im Nebel. Als mögliche Erklärungsansätze im Raum stehen zum Beispiel Umwelteinflüsse oder Änderungen bei der Säuglingsnahrung.

Quelle: dpa

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