Statuenkopf einer griechischen Göttin© liorpt / iStock / Getty Images Plus
Die griechische Göttin Hera hat als Frau von Zeus im Olymp Autorität. In Sachen EU-Gesundheitskrisen hat die namensgleiche Behörde HERA das Zepter in der Hand.

Wie geht Gesundheit auf Europäisch?

HERA – DIE FIRST LADY IM EU-KRISENMANAGEMENT

Sie ist ein Jahr alt und heißt wie eine Göttin: HERA. In der griechischen Mythologie ist Hera die Frau von Zeus, also die First Lady im Olymp. Im wahren Leben ist HERA die zentrale EU-Behörde bei Gesundheitskrisen – also eine Art First Lady im Krisenmanagement.

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Jedes Jahr im Januar veröffentlicht das US-amerikanische Time Magazine eine Liste der 100 wichtigsten Erfindungen des Vorjahrs. 2022 waren vier neue Arzneimittel dabei: zwei COVID-19-Medikamente (Paxlovid® und Evusheld®), ein Impfstoff und ein Medikament (Tecovirimat) gegen Affenpocken.

Für drei davon hat die EU-Krisenbehörde HERA (Health Emergency and Preparedness Authority) zentrale Beschaffungsverträge abgeschlossen. So hat sie dafür gesorgt, dass diese Arzneimittel in den Mitgliedsländern der EU schnell und in ausreichenden Mengen verfügbar waren.

HERA steht für Health Emergency and Preparedness Authority, zu Deutsch „Behörde für gesundheitliche Notfälle und Abwehrbereitschaft“.

Kleine Behöre mit großen Ambitionen

Und genau das ist eine ihrer zentralen Aufgaben: HERA arbeitet unter anderem daran, dass künftig bei grenzüberschreitenden Gesundheitskrisen schnell medizinische Gegenmaßnahmen zur Verfügung stehen – und zwar in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

HERA soll die Reaktions- und Vorsorgekapazitäten der EU stärken und hat dafür ein ziemlich weit gefasstes Mandat: Die Behörde wurde im Oktober 2021 eingerichtet, um eine dauerhafte Struktur für das Vorgehen bei Gesundheitskrisen aufzubauen. Das soll hastige Ad-hoc-Maßnahmen ersetzen, mit denen die EU während der Corona-Pandemie reagieren musste. Deshalb soll HERA Bedrohungen und potenzielle Gesundheitskrisen bereits im Vorfeld antizipieren und entsprechende Reaktionskapazitäten aufbauen.

Dabei arbeitet sie eng mit den nationalen Regierungen zusammen und hat weitreichende Kompetenzen: Sie kann Arzneimittel und Medizinprodukte nicht nur beschaffen, sondern auch verteilen – und so sicherstellen, dass alle Mitgliedstaaten Zugang dazu haben. Sie kann Vorräte an medizinischem Material anlegen oder bestehende Vorräte ausweiten. Sie kann Forschung und Entwicklung fördern – zum Beispiel indem sie Wissenschaftler*innen, Unternehmen und andere Expert*innen zusammenbringt oder auch finanzielle Unterstützung organisiert. Und sie kann zu einem gewissen Grad steuernd in den Markt eingreifen – so soll die der EU bei der Produktion bestimmter medizinischer Güter eine strategische Autonomie aufbauen. Anders gesagt: Sie soll unabhängig werden von Drittstaaten, insbesondere von Asien.

Die EU soll unabhängig werden von Drittstaaten.

Organisatorisch ist HERA eine kleine, flexible Einheit mit aktuell 70 Mitarbeiter*innen. Die Struktur kann je nach Bedarf angepasst werden, denn die Behörde muss in zwei unterschiedlichen Arbeitsmodi funktionieren: im Vorbereitungs- und im Krisenmodus.

Krisenmanagement beginnt lange vor der Krise

In der Vorbereitungsphase dreht sich alles um die Verbesserung der Prävention und Abwehrbereitschaft. Die EU will künftig in der Lage sein, bei einer Gesundheitskrise rasch zu agieren. HERA sammelt und bewertet deshalb Informationen zu potenziellen Gesundheitskrisen und baut entsprechende Reaktionskapazitäten auf.

Das umfasst die gesamte Versorgungskette:

  • von der Identifizierung und Bewertung von Gefahren
  • über die Konzipierung von medizinischen und organisatorischen Gegenmaßnahmen
  • bis hin zur Bevorratung, Beschaffung, Produktion und Verteilung der nötigen medizinischen Produkte.

Dazu überwacht HERA unter anderem Produktionskapazitäten und Entwicklungseinrichtungen sowie den Bedarf und die Verfügbarkeit von Rohstoffen.

Wo immer die Behörde Schwachstellen in den Lieferketten entdeckt, werden Aktivitäten entwickelt, um diese zu beheben: Zum Beispiel indem Produktionskapazitäten ausgebaut, Lagerbestände erhöht oder auch spezielles Know-how entwickelt und weitergegeben wird. Künftig sollen insbesondere die Produktionskapazitäten und Lieferketten – etwa für Impfstoffe oder medizinische Materialien – strategisch so aufgestellt sein, dass sie im Fall einer Krise schnell hochgefahren werden können.

Denn in der Krisenphase geht es vor allem um‘s Tempo: Entscheidungen müssen schnell getroffen, Notfallmaßnahmen zeitnah umgesetzt werden. HERA stellt sicher, dass medizinische Gegenmaßnahmen verfügbar sind und überwacht deren Einsatz. Sie agiert als zentrale Beschaffungsstelle, aktiviert Notfallmaßnahmen in Forschung und Produktion.

Dazu baut sie das Produktionsnetzwerk EU FAB auf, über das sie künftig Produktionskapazitäten für Impfstoffe reservieren kann. Die Anlagen sollen im Krisenfall ad-hoc Spitzenkapazitäten herstellen.

Kaltstart mit Affenpocken und CBRN

Erfahrungen im Krisenmodus hat HERA im ersten Jahr ihres Bestehens gleich zwei Mal gemacht: Zum einen mit den Affenpocken – eine weltweite Infektionswelle, die vom Ausmaß her zwar wesentlich kleiner war, aber in den grundlegenden Krisenanforderungen ähnlich wie COVID-19. Und zum anderen mit konkreten Herausforderungen und potenziellen Gefahren im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine.

Beispiel Affenpocken: Seit dem Ausbruch des Virus im Mai 2022 unterstützt HERA die Reaktionsmaßnahmen der EU-Mitgliedstaaten. Allein für 2022 hat die Behörde fast 350 000 Impfstoffdosen beschafft, um den Sofortbedarf in der EU zu decken. Zudem hat sie mit dem Hersteller (Bavarian Nordic) einen Rahmenvertrag über bis zu 2 Millionen weitere Impfstoffdosen geschlossen. So können die Mitgliedsländer den mittel- und langfristigen Bedarf decken und Vorräte aufbauen. Hinzu kommt der Ankauf von mehr als 10 000 Dosen Tecovirimat, einem Arzneimittel zur Behandlung von Affenpocken.

Völlig andere Herausforderungen stellt der Krieg in der Ukraine dar. Hier geht es zwar auch um ganz normale Arzneimittel und medizinische Ausrüstung, mit denen die EU die Ukraine unterstützt. Gleichzeitig stellt sie aber auch Arzneimittel, Medizinprodukte und Schutzausrüstung gegen chemische, biologische, radiologische und nukleare (CBRN) Bedrohungen zur Verfügung.

Zum Beispiel Antidote und Jodtabletten, Dekontaminationsausrüstungen oder Detektoren für chemische Stoffe. Dafür wurden rescEU-Reserven mobilisiert: Die Ukraine erhält Medizinprodukte aus bereits bestehenden Vorratslagern in Deutschland, Griechenland und Schweden. Darüber hinaus hat die EU-Kommission aber auch eine neue strategische CBRN-Reserve beschlossen, die in Finnland positioniert und ebenfalls über das Programm rescEU finanziert wird. Sie ist Teil des EU-Katastrophenschutzverfahrens, das Kommission und HERA im letzten Jahr weiterentwickelt haben.

Neue Gesundheitsrisiken – neue Herausforderungen

Beide Beispiele zeigen, dass HERA wesentlich zur Widerstandsfähigkeit der EU beitragen kann. Sie zeigen auch, dass die Behörde offenbar genau zur richtigen Zeit etabliert wurde.

Häufigere epidemische Infektionswellen wie etwa die Affenpocken prophezeien einschlägige Experten zwar schon seit Längerem. Mit einem Krieg mitten in Europa und den sich daraus ergebenden Gesundheitsgefahren hat bislang kaum jemand gerechnet. Um so wichtiger ist eine Institution, die die Lücke füllt, die zwischen dem Erkennen der Bedrohung und der Verfügbarkeit von Gegenmaßnahmen klaffte. Wie groß diese Lücke war, hat die COVID-19-Pandemie eindrucksvoll und schmerzlich gezeigt.

Häufigere epidemische Infektionswellen prophezeien Experten schon seit Längerem.

Damit Europa künftig besser vorbereitet ist und koordinierter agiert, arbeitet HERA unter anderem an einer zentralen elektronischen Plattform für das Management medizinischer Gegenmaßnahmen (MCMI). Sie soll im Lauf des Jahrs live geschaltet werden.

Zudem entwickelt die Behörde die Epidemie- und Pandemievorsorge weiter: etwa mit innovativen Impfstoffen, Therapeutika und Diagnostika für COVID-19, aber auch mit Maßnahmen gegen antimikrobielle Resistenzen (AMR).

Über EU FAB sollen 2023 erste Herstellungskapazitäten verbindlich reserviert werden.

Mit dem neuen Finanzierungsmechanismus HERA INVEST sollen außerdem 100 Millionen Euro bereitgestellt werden, um private Investitionen für die Entwicklung und Herstellung eines breiten Spektrums von medizinischen Gegenmaßnahmen zu unterstützen.

Und schließlich will HERA eine Strategie für CBRN-Maßnahmen entwickeln.

Regierungschef oder Damenprogramm?

Bei all dem ist HERA einer der zentralen Akteure – aber bei Weitem nicht der einzige. Bei allem, was HERA anpackt, muss sie eng zusammenarbeiten:

  • mit den Regierungen der Mitgliedstaaten, die zuständig sind für die Gesundheitsvorsorge in ihren jeweiligen Ländern,
  • mit Wissenschaftler*innen und Expert*innen aus vielen unterschiedlichen Fachrichtungen, die inhaltliches Knowhow liefern,
  • mit privaten Unternehmen, die Impfstoffe, Therapeutika, Medizinprodukte entwickeln und produzieren,
  • mit anderen EU-Institutionen.

Darunter sind die Europäische Exekutivagentur für Gesundheit und Digitales (HaDEA), die im Auftrag von HERA Waren und Arzneimittel angekauft; oder die Arzneimittelagentur EMA, die für die Zulassung innovativer Wirkstoffe zuständig ist; und das Präventions- und Kontrollzentrum ECDC, dessen Rolle und Aufgaben nicht ganz transparent von jenen der HERA abgegrenzt sind. Und schließlich auch mit der EU-Kommission, die die Krisenbehörde als interne Generaldirektion angelegt hat – und nicht, wie ursprünglich geplant als unabhängige Agentur mit eigenem Budget.

In diesem komplexen Umfeld liegt eine der großen Gefahren für die noch junge EU-Behörde. Sie müsse sich behaupten – sonst würde ihr aktuell noch starker Einfluss schnell schwinden, befürchten die Autoren einer gerade veröffentlichten Studie zum ersten Tätigkeitsjahr. Dazu müssten das Profil und die Rolle von HERA nachgeschärft werden, sie brauche eine transparente, auf die vielen beteiligten Interessengruppen ausgerichtete Leitung und ein eigenes Budget.

Um im Bild der (politischen) First Lady zu bleiben: Wenn HERA nicht zum Regierungschef im EU-Management von Gesundheitskrisen wird, verschwindet sie im begleitenden Damenprogramm – während die wichtigen Entscheidungen am Kabinettstisch ohne sie getroffen werden.

HERA auf einen Blick
Die EU-Behörde für die Krisenvorsorge und Krisenreaktion bei gesundheitlichen Notlagen (englisch: Health Emergency Preparedness and Response Authority – kurz HERA) ist eine zentrale Säule der Europäischen Gesundheitsunion – neben der Europäischen Arzneimittelagentur EMA und dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten ECDC. Zentrale Aufgabe von HERA ist die Stärkung der Reaktions- und Vorsorgekapazitäten der EU für künftige Gesundheitskrisen. Die Behörde wurde im Oktober 2021 eingerichtet und ist als Generaldirektion innerhalb der EU-Kommission angesiedelt.

Tätigkeitsfelder/Aufgaben

Gesundheitssicherheit:

● Koordination der Aktivitäten von EU-Institutionen, Mitgliedstaaten, Industrie und weiterer relevanter Akteure
● Bewertung von Gesundheitsbedrohungen und Sammlung von Informationen/Erkenntnissen für medizinische Gegenmaßnahmen
● Förderung von Forschung und Entwicklung zu Gegenmaßnahmen und damit verbundenen Technologien
● Beschaffung und Verteilung medizinischer Gegenmaßnahmen
● Schaffung/Erhöhung von Lagerkapazitäten
● Ausbau der Kenntnisse und Fähigkeiten im Bereich der Abwehrbereitschaft und der Reaktion auf medizinische Gegenmaßnahmen

Strategische Autonomie:

● Identifizieren und Beseitigen von Schwachstellen und Abhängigkeiten bei der Entwicklung, Herstellung, Beschaffung, Bevorratung und Verteilung von medizinischen Gegenmaßnahmen
● Identifizieren und Bewältigen von Marktherausforderungen, um die strategische Autonomie der EU bei der Herstellung medizinischer Gegenmaßnahmen zu stärken

Internationale Zusammenarbeit:
● Stärkung der globalen Bereitschafts- und Reaktionsarchitektur für gesundheitliche Notfälle

Quellen:
Improving the Mission Governance and Operations of the EU HERA (In-depth-analysis; January 2023) https://www.ceps.eu/ceps-publications/
Health Emergency, Preparedness and Response Authority (HERA): 2023 Annual Work Plan https://health.ec.europa.eu/system/files/2022-11/hera_2003_wp_en.pdf
Peter Piot, Special Advisor on COVID-19 to the EC President: Rede zum ersten Jahrestag der HERA (8. Dezember 2022) https://health.ec.europa.eu/latest-updates/hera-celebrates-its-first-anniversary-updated-2023-01-05_en 
Webpage GD HERA https://commission.europa.eu/about-european-commission/departments-and-executive-agencies/health-emergency-preparedness-and-response-authority_de
Factsheet – HERA https://health.ec.europa.eu/latest-updates/factsheet-european-health-emergency-preparedness-and-response-authority-hera-2021-09-16_en
Beschluss der Kommission vom 16 September 2021 zur Einrichtung der Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A32021D0929%2802%29&qid=1670412424236
rescEU: Kommission schafft in Finnland erste strategische Reserve für chemische, biologische, radiologische und nukleare Bedrohungen (17. Januar 2023) https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_23_233
Gesundheitsunion: HERA sichert zusätzliche Impfstoffdosen für die Bekämpfung des Affenpockenausbruchs (7. September 2022) https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_5362
Affenpocken: Kommission kauft Behandlungseinheiten zur Deckung unmittelbaren Bedarfs (26. September 2022) https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_5482
Europäische Gesundheitsunion: HERA sichert bis zu 2 Millionen Dosen des Affenpockenimpfstoffs (17. November 2022) https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_6766
Europäische Gesundheitsunion: Kommission sichert Zugang zu fast 3,5 Millionen COVID-19-Medikamenten im Rahmen eines Vertrags über die gemeinsame Beschaffung (23. November 2022) https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_22_6491

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