Ein herzförmiger Anstecker zeigt die EU-Flagge. Er steckt in einem Wollpullover oder -schal.© Nikita Burdenkov / iStock / Getty Images Plus
Eine neue Verordnung hat diesen Oktober die EU-Gesundheitsunion besiegelt. Wir dröseln für Sie Ziele und Instrumente dieser Union auf.

Wie geht Gesundheit auf Europäisch?

EU-GESUNDHEITSUNION, DER BEGINN VON MEHR EUROPA IN EUROPA – TEIL 1

Am 4. Oktober hat des EU-Parlament die Verordnung zu grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren angenommen -–den dritten und letzten Baustein zur EU-Gesundheitsunion. Deren ursprüngliches Ziel: besser auf Gesundheitskrisen vorbereitet zu sein. Inzwischen gehen die Ambitionen aber weit darüber hinaus.

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Es begann mitten in der Krise. Im Herbst 2020, als überall in Europa die Zahl der COVID-19-Infektionen erneut sprunghaft anstieg. Es war bereits die zweite weltweite Infektions-Welle in diesem Jahr. Beim Weltgesundheitsgipfel Ende Oktober in Berlin war Corona das zentrale Thema. Auch für Ursula von der Leyen, die eine der Eröffnungsreden hielt.

“Wir können nicht das Ende der Pandemie abwarten, ehe wir uns daran machen, ihre Folgen zu bewältigen und Vorsorge für die Zukunft zu treffen“, sagte die EU-Kommissionspräsidentin an diesem 25 Oktober 2020. Knapp zwei Wochen später, am 11. November 2020, legte sie ein Strategiepapier vor, das ein Grundgerüst für eine Europäische Gesundheitsunion vorschlägt.

Am Anfang stand eine ernüchternde Bilanz

Mit diesem Papier zog die EU-Kommission zum ersten Mal Bilanz aus den Erfahrungen von damals gut neun Monaten Pandemie. Es war ernüchternd: Europaweit hatten sich bis dahin rund 12 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert. Gut eine Viertelmillion Europäer war gestorben. Zudem hatte das Virus einige der Grundpfeiler der Europäischen Union nachhaltig erschüttert:

Als Anfang 2020 die erste Infektionswelle über Europa gerauscht war, hatten die Mitgliedsländer ihre Grenzen dichtgemacht. Unkoordiniert. Damit war das Grundrecht der Freizügigkeit quasi ausgesetzt. EU-Bürgerinnen und Bürger konnten nicht mehr über die Binnengrenzen – egal, ob sie zur Familie wollten, oder zur Arbeit.

Auch die Lieferketten vieler Unternehmen wurden unterbrochen. Waren und Dienstleistungen blieben an den Grenzen hängen. Das beeinträchtigte den gesamten Binnenmarkt – ökonomische Lebensgrundlage für rund 450 Millionen Menschen.

Und schließlich litt die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Beim allgemeinen Run auf Masken oder medizinische Geräte galt vor allem die Devise: Wer zahlen kann, bekommt.

Das Ziel: besser vorbereiten – koordiniert reagieren

Schnell wurde deutlich, dass nationalen Maßnahmen zum Schutz der eigenen Bevölkerung wenig ausrichten gegen ein Virus, das keine Grenzen kennt. Mehr noch: „Die fragmentierte Bekämpfung grenzübergreifender Gesundheitsgefahren macht alle Mitgliedstaaten kollektiv anfälliger“, konstatiert das Strategiepapier für die Gesundheitsunion.

Es musste also eine Lösung her, die dafür sorgt, dass die 27 EU-Staaten besser zusammenarbeiten. Dass Regierungen sich absprechen. Dass Maßnahmen koordiniert werden. Und vor allem: Dass die EU insgesamt und jeder ihrer Mitgliedstaaten besser für Gesundheitskrisen gerüstet sind.

Wir können nicht das Ende der Pandemie abwarten, ehe wir uns daran machen, ihre Folgen zu bewältigen und Vorsorge für die Zukunft zu treffen.“

Eine Strategie, drei Gesetze und eine neue Behörde

Die Vorbereitung auf künftige Gesundheitskrisen wurde damit zu einem der zentralen Ziele für die EU-Gesundheitsunion. Die nämlich soll dafür sorgen, dass Bürger und Binnenmarkt besser geschützt sind – durch Prävention und Vorsorge in den Mitgliedstaaten und durch eine bessere Reaktionsfähigkeit auf EU-Ebene. Dazu macht die Kommission im Strategiepapier vom November 2020 eine Reihe von Vorschlägen in sieben Aktionsbereichen.

Das Strategiepapier zur Gesundheitsunion
Die EU will:
● im Krisenfall koordinierte Reaktionen auf EU-Ebenedurchsetzen. Die Kommission kann EU-weit einen Notfall ausrufen und Krisenreaktionsmechanismen in Gang setzen. (Bislang ist sie davon abhängig, dass die WHO zuerst eine Notlage von internationaler Tragweite erklärt.)
Vorsorge für medizinische Gegenmaßnahmen treffen, etwa durch gemeinsame Beschaffung von Medikamenten, Impfstoffen oder medizinischer Ausrüstung.
Vorsorge- und Reaktionspläne einführen –auf EU-Ebene und in jedem einzelnen Mitgliedstaat. Diese Pläne werden durch Audits überprüft. Zudem sollen die nationalen Gesundheitssysteme regelmäßig Stresstests durchlaufen.
● die Epidemiologische Überwachung verbessern, zum Beispiel durch Hochleistungsrechner oder Simulationssysteme auf Basis Künstlicher Intelligenz (KI)
Laborbefunde, Tests und Kontaktnachverfolgung europaweit besser steuern und unterstützen. Dazu sollen EU-Referenzlaboratorien und ein System für automatisierte Kontaktnachverfolgungen eingeführt werden.
Frühwarnung und Risikobewertung auf EU-Ebene stärken, insbesondere durch einen neuen Risikobewertungsrahmen und durch schnelle Empfehlungen an die Mitgliedstaaten für Gegenmaßnahmen.
● eine führende Rolle der EU in der globalen Zusammenarbeit und Koordination sichern. Dazu soll zum Beispiel die EU-Gesundheits-Taskforce (ein Expertengremium des ECDC), auch in Drittländern aktiv werden können und in internationalen Krisenreaktionsteams mitarbeiten.

Darüber hinaus kündigte die EU-Kommission an, eine neue Behörde für Krisenvorsorge und -Reaktion bei gesundheitlichen Notlagen zu schaffen: die Emergency Preparedness and Response Authority (HERA). Die soll bei einer Gesundheitskrise rasch medizinische und organisatorische Maßnahmen ergreifen. Sie kann dazu Produktionskapazitäten, Entwicklungseinrichtungen und Verfügbarkeit von Rohstoffen überwachen und sicherstellen, dass Schwachstellen in den Lieferketten behoben werden.

Um ihre Vorschläge umzusetzen, fügte die EU-Kommission ihrem Strategiepapier auch gleich drei Gesetzentwürfe bei:

Die zentralen Initiativen der EU-Gesundheitsunion

Die zentralen Initiativen der EU-Gesundheitsunion
Seit dem ersten Strategiepapier vom November 2020 hat die EU die Ziele und Inhalte der Gesundheitsunion massiv ausgeweitet. Zu den zentralen Aktionen gehören:

Stärkung der Europäischen Arzneimittelagentur EMA:
Seit 1. März 2022 kann die EMA besser dazu beitragen, dass die Staaten der EU koordiniert auf Gesundheitskrisen reagieren. Dazu wurde ihr Mandat um neue Aufgaben und Kompetenzen erweitert.

Stärkung des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC)
Die ECDC wird künftig eine weit aktivere Rolle bei der Prävention und Bekämpfung von Gesundheitskrisen spielen.

Verordnung zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren (Serious Cross-Border Health Threats)
Diese Verordnung ist die rechtliche Grundlage für die Ausweitung der Kompetenzen von EU-Kommission, EMA und ECDC. Zu den wichtigsten Regelungen gehören:
● Verpflichtung zu Vorsorge- und Reaktionsplänen auf nationaler und EU-Ebene..
● Ermächtigung der Kommission eine Notlage im Bereich der öffentlichen Gesundheit festzustellen, Mechanismen zur Überwachung von Arzneimittelengpässen auszulösen und die Unterstützung durch das ECDC zu aktivieren.
● Mehr Befugnisse des Gesundheitssicherheitsausschusses zur Koordination der Krisenreaktion und zur Umsetzung der Verordnung zu grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren
● Stresstests für nationale Gesundheitssysteme, EU-weite Planung von Vorsorgemaßnahmen und gemeinsame Beschaffung medizinischer Gegenmaßnahmen

Behörde für Krisenvorsorge und -Reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA)
HERA ist bei der EU-Kommission angesiedelt und arbeitet in zwei Arbeitsmodi: In der "Bereitschaftsphase" kann sie Investitionen steuern und Maßnahmen zur Stärkung von Prävention, und Abwehrbereitschaft ergreifen. In einer „Krisenphase“ ist sie befugt, dafür zu sorgen, dass Entscheidungen rasch getroffen und Notfallmaßnahmen schnell umgesetzt werden.

Europäischer Plan zur Krebsbekämpfung
Ein 360-Grad-Ansatz mit konkreten Maßnahmen für Prävention, Früherkennung, Diagnose und Behandlung sowie Verbesserung der Lebensqualität.

Europäischer Gesundheitsdatenraum (EHDS)
Der Verordnungsvorschlag zum EHDS wurde im Mai 2022 auf den Weg gebracht und soll bislang nicht da gewesene Standards im Umgang mit sensiblen Gesundheitsdaten setzen:
● EU-Bürgerinnen und Bürger sollen einfach auf ihre Daten zugreifen und diese mit Angehörigen der Gesundheitsberufe in und zwischen den Mitgliedstaaten austauschen können.
● Die EHDS-Verordnung wird einen Rechtsrahmen vorgeben wann, wofür und in welchem Umfang Gesundheitsdaten von Dritten genutzt werden können. Für diese Sekundärnutzungen wird die EU eine neue digitale Infrastruktur (HealthData@EU) einrichten

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Quellen:
EU-Kommission, „Schaffung einer europäischen Gesundheitsunion: Die Resilienz der EU gegenüber grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren stärken“, (Strategiepapier zur Schaffung einer Europäischen Gesundheitsunion vom 11.11.2020): https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX%3A52020DC0724&qid=1605690513438
EU-Kommission, Webseiten: EU-Gesundheitsunion: https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/promoting-our-european-way-life/european-health-union_de
Gesundheitswesen: https://health.ec.europa.eu/index_de
Strategische Prioritäten der Legislaturperiode 2019-2024: https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/promoting-our-european-way-life/european-health-union_de#zentrale-initiativen
Pressemeldungen: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/home/de
Weltwirtschaftsforum, Website zur Covid-19-Pandemie: https://www.weforum.org/agenda/2020/03/coronavirus-global-epidemics-health-pandemic-covid-19/
Europäisches Parlament, Verordnung am 4.10. angenommen: https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20220930IPR41927/gesundheitsunion-eu-soll-gesundheitskrisen-besser-in-den-griff-bekommen

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