© Frater Aloisius

Der Apothekenkrimi

TOD IM LABOR - TEIL 6

Es sieht so aus, als habe Annette den richtigen Riecher gehabt: Sollte die kommissarische Schulleiterin Dr. Lilian Wissner etwas mit dem Tod von Werner Heinzmann zu tun haben? Das große Finale findet im Nachtdienstzimmer statt – dort, wo auch schon der „Mord am Mainufer“ aufgeklärt wurde.

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Der Schock saß allen tief in den Knochen. Als sie sich heute, fünf Tage nach Annettes Abreise aus Kallenberg, im Nachtdienstzimmer trafen, war keinem von ihnen wohl zumute. Die PTA, ansonsten hart im Nehmen, hatte sich sogar zwei Tage krank gemeldet. Gerade an ihr waren die Ereignisse nicht spurlos vorübergegangen. Britta Badouin räumte schweigend die Blocks, Kugelschreiber, Bonbons und Probepackungen der Pharmavertreter in die dafür vorgesehene Kiste. Sie stellte Mineralwasser und Gläser bereit.

Robert von der Leyden, mittlerweile aus der Untersuchungshaft entlassen, war dabei immer an ihrer Seite. Er hatte seine Tätigkeit als Arzt wieder aufgenommen. Dass die beiden mittlerweile ein Paar waren, wusste jeder, aber beide verhielten sich immer noch diskret, wollten erst den Prozess abwarten, in dem – hoffentlich – eine milde Strafe zu erwarten war. Annette lehnte an der Wand neben dem bodenlangen Spiegel. Sie starrte blicklos vor sich hin und war unnatürlich blass. In der Hand hielt sie einen Briefumschlag.

Alle drei warteten auf Frido, der ja an der Aufklärung des Falles maßgeblich beteiligt gewesen war. Als sie endlich den stampfenden alten Dieselmotor des Landrovers auf dem Innenhof hörten, kam Bewegung in die drei: Der Doktor setzte sich aufs blauweiß bezogene Sofa, Britta nahm neben ihm Platz. Sie knetete nervös ihre Hände. Nur Annette blieb stehen, neben dem Spiegel, und es schien, als ob sie nichts mehr wahrnahm. Als Frido das Zimmer durch die Tür zum Hof betrat, erfasste er mit einem Blick die Lage.

Er nickte Britta sowie seinem Onkel kurz zu, ging dann zu Annette und nahm sie in die Arme. Annette atmete tief ein, es klang wie ein leises Schluchzen, und sie legte den Kopf kurz in seine Halsbeuge. Frido murmelte etwas Beruhigendes. Ein paar Minuten verharrten sie so, Minuten, in denen Frido nichts weiter tat, als sie festzuhalten. Denn, ach – es war nicht so einfach angesichts der Ereignisse seine Seelenruhe zu behalten. „So“, sagte Annette. Sie räusperte sich, denn ihre Stimme klang wie eingerostet, wie lange nicht benutzt.

Frido hatte sich einen Stuhl herangezogen und beobachtete sie wachsam von der Seite aus. „Ihr alle wisst ja, was geschehen ist und ich möchte euch jetzt erklären, wie es dazu kam. Glaubt mir bitte, ich habe das nicht gewollt. Ich habe dieses Treffen vergangene Woche vorgeschlagen, um euch zu informieren, inzwischen haben die Ereignisse aber ihre eigene Dynamik entwickelt.“ Britta Badouin nickte. Sie wusste, wie sich das anfühlte. Bei der Aufklärung des letzten Falles war sie selbst in dieser Zwickmühle gewesen. Annette zögerte, aber nur kurz.

„Ich werde euch diesen Brief vorlesen“ – sie hob kurz die Hand mit dem elfenbeinfarbenen Umschlag – „denn er liefert die beste Zusammenfassung. Er stammt von Lilian Wissner, der kommissarischen Chefin der Schule. Ihr wisst ja, warum ich in Kallenberg war – um die Geschehnisse um den Tod des ehemaligen Schulleiters aufzuklären. Wobei ich mich heute allerdings frage, ob ich es nicht lieber dabei belassen hätte, zuzusehen. Aber okay…“ Die PTA riss sich zusammen. Sie nahm ein paar Papierbögen aus dem Umschlag, faltete sie auseinander und begann vorzulesen, zunächst langsam und stockend, dann immer flüssiger.

„Frau Loos,

ich hoffe, wenigstens die Adresse, die Sie angegeben haben, stimmt. Denn Sie sind nicht die, für die Sie sich ausgeben, stimmt`s? Sie sind weder aus dem Berufsleben gefallen noch völlig ahnungslos. Im Gegenteil, Sie verfügen über eine äußerst scharfe Beobachtungsgabe. Wie haben Sie das nur herausgefunden? Ich war mir so sicher, dass es niemand merken würde.

Wissen Sie, Werner Heinzmann und ich waren mal ein heimliches Paar, aber das ist schon ein wenig her. Wir schieden weitestgehend ohne Groll voneinander, denn er hatte gemerkt, dass unsere Geschichte nicht ganz fair seiner Ehefrau gegenüber war – haha, Blitzmerker. Naja, wie dem auch sei, wir kannten uns deshalb ganz gut, konnten einander einschätzen.

Er wusste sehr viel über mich. Und jetzt, da es egal ist, kann ich es ja zugeben: Ich war an dieser Schule haargenau am richtigen Platz. An keinem anderen Ort wäre ich gediehen. Nicht in der Apotheke, nicht in der Forschung, nicht einmal in einer Familie. Und genau deswegen hatte ich auch keine. Sogar die Affäre mit Werner passte, denn sie barg ja weiter keine Verpflichtungen. Wir hatten ein paarmal Sex miteinander, aber das war eigentlich weiter nicht der Rede wert, er hätte sich um seine kostbare Ehe weiter keine Sorgen machen brauchen.

Und doch muss da etwas gewesen sein, was unter der Oberfläche schwelte. Eine Gefühlstiefe, von der ich selbst nichts ahnte, eine Leidenschaft, die mir selbst nicht bewusst war. Die mir aber schlagartig bewusst wurde, als ich Duri traf. Duri ist Inder. Er lebt in einer der südlichsten Provinzen des Landes, in Kerala. Ich habe ihn auf einer Reise kennen gelernt, er hat einen kleinen Laden, in dem ich damals einkaufte. Duri ist viel jünger als ich. Er hat diese glatte braune Haut und diese wunderschönen dunklen Augen. Er begehrte mich, das war der Anfang, und bald war ich ihm ganz und gar verfallen. Ich war völlig ungeübt in diesen Dingen und gab mich rückhaltlos hin. Ich nahm einfach an, dass es bei ihm genauso war.

Ich schickte ihn regelmäßig Geld, der arme Kerl hatte ja so wenig. Mit fiel gar nicht auf, dass er sich nur so selten meldete, irgendwie meinte ich wohl, die modernen Kommunikationsmittel waren bis Südindien noch nicht vorgedrungen. Da sehen Sie mal, wie naiv ich bin.

Werner, der alte Teufel, hatte das sehr genau beobachtet. Ich versuchte es lange, vor ihm zu verbergen, aber es war unmöglich; er kannte mich zu genau. „Du bist verliebt“, sagte er mir irgendwann auf den Kopf zu. Sein „Pass auf dich auf“, nahm ich schon nicht mehr wahr. Eigentlich machte er sich nämlich Sorgen um mich. Aber ich war so verblendet, ich hielt es für Eifersucht.

WAS BISHER GESCHAH
Wer hat Werner Heinzmann auf dem Gewissen? Die Polizei geht von einem Herzinfarkt aus, doch Chemie-Lehrerin Ulla Brambach ist sich sicher, dass der Leiter der PTA-Schule Kallenberg einem Mord zum Opfer fiel. Lange tappt Annette Loos, PTA in der Bärenbach-Apotheke und inkognito als Schülerin eingeschleust, im Dunkeln. Okay, die Schule sollte geschlossen werden und mit der Ankündigung hat sich der 52-Jährige bestimmt keine Freunde gemacht, aber jemanden deswegen gleich umzubringen, das kann sich Annette doch nicht vorstellen. Ein Zufall bringt schließlich Bewegung in die privaten Ermittlungen. Annettes Freund hat da mal was bei Google eingegeben. Es sind die Worte Mango. Und Mord.

Die Reisen nach Indien begannen mein Leben zu bestimmen. Ich versuchte, ein Stückchen dieses Landes nach Hause zu holen. Damit ich Duri immer bei mir hatte. Irgendwann kehrte sich die Sache um: Indien wurde wichtiger als die Schule. Und doch brauchte ich die gut dotierte Anstellung, um die Beziehung mit Duri am Laufen zu halten. Denn ich merkte schon, dass auch mein Einkommen für ihn wichtig war. Er behandelte mich wie seine Frau – allerdings nur, wenn die Rupien rollten. Ich wollte das natürlich nicht wahrhaben. Ich machte einfach immer weiter.

Werner sagte mir auf den Kopf zu, dass Duri mich ausnutzte. Dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis die ganze Geschichte in sich zusammenbrechen würde – und dass ich mich umstellen müsse. Ich müsse lernen, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Mich dem Altern zu stellen. Einen neuen Beruf zu lernen. Das muss einen Kurzschluss bei mir verursacht haben. Wissen Sie, Frau Loos, in Südindien gibt es eine Region, in der ist es sehr feucht und sehr warm, wie geschaffen für tropische Gewächse. Inmitten der Backwater, entlang der Küstenlinie, wächst dort ein Bäumchen. Duri hat ihn mir gezeigt.

„Das“, sagte er, „ist der Selbstmordbaum. Hier bei uns, in dieser Provinz, kennt ihn jedes Kind.“ Die Suizidrate in Kerala ist besonders hoch. Weil es eben so einfach ist. Die Frucht des CERBERA ODOLLAM sieht genauso aus wie eine Mango. Man bereitet sie auch so zu. Sie enthält so viel Herzglykoside, dass die Reizweiterleitung am Herzen nach und nach versiegt. Der Betroffene merkt das erst nach Stunden. Und dann schläft er einfach ein. In Indien nehmen Selbstmörder das letzte Mahl gern zum Abendessen, erzählte mir Duri. Man findet sie dann am Morgen in ihrem Bett. Ein ruhiger, ein sanfter Tod.

Er zeigte mir ein paar der Früchte, und ich, die Botanikerin, nahm sie an mich. Vielleicht würde ich sie meinen Schülerinnen einmal zeigen, denn der Zerberusbaum, wie er auf deutsch genannt wird, ist eine Abart des Oleander. Ein Hundsgiftgewächs, eine Apocynaceae. Sie ahnen sicherlich, wie es weitergegangen ist. Ich habe die echte Mango aus dem Obstkorb liegen gelassen, in unserer kleinen Küche, als ich jene andere Frucht in Werners Curry geschnitten habe. Ich hatte das geplant.

Inmitten des scharfen Gerichtes fiel die See-Mango – so wird sie auch genannt – nicht weiter auf. Sie schmeckt nämlich recht bitter. Ich hab` sogar ein wenig Zucker darüber gestreut. Werner hat nichts gemerkt. Er hat das Zeug in sich reingeschaufelt, weil er nämlich mal wieder völlig ausgehungert war. Seine Ehefrau hat bestimmt einige Vorzüge; kochen gehört allerdings nicht dazu. Er lachte mich noch an. Und ich lachte zurück. Die deutsche Gerichtsmedizin ist auf ein solches Gift nicht eingestellt. Deswegen ist es auch eine so sichere Sache.

Es ist nur mit aufwändigen Messmethoden möglich, dieses Gift nachzuweisen, es braucht dazu Flüssigkeitschromatographie und Massenspektronomie, und noch dazu muss man wissen, wonach man sucht. Ansonsten sieht es nämlich aus wie ein ganz normaler Herzinfarkt. Ob Werner wusste, was mit ihm geschah – als sein Herz immer langsamer schlug, ihm der Schweiß ausbrach und er ins Labor ging, um die Kreislauftropfen zu holen? Aber auch der Weißdornextrakt half da nichts mehr – die Droge war schon in seinem Blut und nicht mehr zu stoppen.

Die elektrischen Impulse, die seine Herzknoten sendeten, wurden immer seltener vermittelt und irgendwann hörten die neuromuskulären Leitungen auf zu funktionieren. Das war der Moment, in dem er zusammenbrach. So ergeht es Leuten, die anderen ihre Maske herunterreißen. Ich hätte es weiterhin verbergen können. Aber dann kamen Sie. Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie Sie es herausgefunden haben.

Vor drei Stunden haben Sie mir im Türrahmen des Lehrerzimmers diese Frage gestellt: Kennen Sie den Zerberusbaum? Wie würde es weitergehen? Würden Sie Ihr Wissen an die Polizei weiterleiten, würde man Werner exhumieren und eventuell die Todesursache finden. Duri würde mit hineingezogen werden; Duri, den ich nach wie vor liebe. Und ich würde den Rest meines Lebens hinter Gittern verbringen.

Das will ich nicht. Ich werde mir diese letzte Mango, die sich noch in meinem Kühlschrank befindet, kleinschneiden und reichlich Zucker darüber streuen. Dann werde ich ein wenig Milch darüber gießen. Ich werde sie essen, diesen Brief in den Kasten vor meinem Haus werfen, und dann werde ich zu Bett gehen. Leben Sie wohl, Frau Loos.

Ihre Lilian Wissner“

»Ich war an dieser Schule haargenau am richtigen Platz. An keinem anderen Ort wäre ich gediehen.«

Epilog Der „Tod im Labor“ blieb unaufgeklärt, jedenfalls offiziell. Auch Lilian Wissner, die leblos in ihrem Bett gefunden wurde, starb nach Ansicht der Gerichtsmedizin an einem Herzinfarkt. Zwar erregte dieser doppelte Todesfall viel Aufregung und Stirnrunzeln bei den Behörden – doch nachweisen konnte man nichts. Der letzte Jahrgang der der PTA-Schule hat komplett bestanden.

Die Strickliesel musste zwar noch einmal in die Nachprüfung, natürlich in Chemie, aber ein wohlmeinendes Prüfergremium stellt ihr sehr leichte Fragen, nach deren Beantwortung sie zwar immer noch eine schlechte vier bekam, aber immerhin, es war geschafft. Und sie wurde dann doch noch eine ganz gute PTA. Britta Badouin war in die Prüfungskommission berufen worden. Ansonsten hätte das Regierungspräsidium Schwierigkeiten gehabt, das Examen zu genehmigen.

Auch als Zweitkorrektor der Examensklausuren musste Britta ran; sie gab verbotenerweise einige Arbeiten an Annette weiter, doch auch die schaffte es nicht, die Strickliesel durchzuwinken. Wer Ameisensäure zum Stabilisieren einer Wasserstoffperoxidlösung nahm und Harnstoff zu den Separanda stellen möchte, dem konnte man auch keine Punkte geben.

Die strickenden PTA schickten Annette nach bestandenem Examen ihren Schal – den sie gemeinschaftlich fertiggestellt und noch dazu mit lustigen roten Bommeln versehen hatten. Annette hatte ihn in der Aufregung liegen lassen. Sie trug ihn bei einem Waldspaziergang mit Frido, auf dem er ihr eine ganz bestimmte Frage stellte. Doch das gehört in die nächste Geschichte.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 11/16 ab Seite 102.

Alexandra Regner, PTA, Journalistin und Redaktion

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