© bowie15 / iStock / Getty Images Plus
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Kolumne | Prof. Dr. Aglaja Stirn

SCHULDGEFÜHLE

Der Schuldgedanke ist ein Grundphänomen menschlicher Existenz und durchzieht jedes menschliche Leben. Er ist eng mit der christlichen Lehre verbunden.

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Hatten Sie auch schon einmal Schuldgefühle, nachdem Sie unrecht gehandelt haben? Vermutlich, da wir alle schon Dinge getan haben, die mit unserem Gewissen nicht im Einklang stehen. Manche Menschen begleiten diese Schuldgefühle über Jahre und andere haben sie nach zwei Tagen vergessen oder verdrängt. Auch gibt es Menschen, die sehr schnell Schuldgefühle entwickeln, weil sie ein strenges inneres Wertesystem haben, was ihnen diktiert, was gut und böse ist und sie mit sich sehr streng ins Gericht gehen. Schuld entsteht vor allem im Zwischenmenschlichen und sie ist unumgänglich.

Der Schriftsteller Thomas Bernhard sagt es ganz deutlich: „Das Leben ist schlechthin gekennzeichnet durch Schuld und Verfehlung.“ Menschen verletzen zutiefst und sind selbst zutiefst verletzt. Aristoteles entwickelte vor allem einen guten Blick auf Schuld im Sinne von Vorwerfbarkeit und damit auf eine Bewertung der Schuld. Wichtig ist vor allem der Unterschied zwischen realer Schuld und Schuldgefühlen. Jemand kann real schuldig werden und keine Schuldgefühle haben oder er kann Schuldgefühle haben ohne schuldig zu sein.

Ein Kind, welches sich schuldig fühlt, weil die Eltern sich trennten, hat zu Unrecht Schuldgefühle. Auch die Überlebensschuld ist ein Schuldgefühl, welches keine reale Schuld bedeutet. Im Rahmen einer depressiven Erkrankung findet man oft Schuldgefühle im Sinne von Versündigungswahn, die ebenfalls nicht real sind. Schuldgefühle sind ubiquitär vorhanden und bestimmen unser Leben. Es gibt Menschen, die haben zu viele Schuldgefühle und es gibt Menschen, die lassen sie nicht zu. Auch reale Taten, die Schuld auf sich ziehen, werden unterschiedlich empfunden, manche leiden unter großen Qualen und andere sind merkwürdig indifferent. Was sagte Nietzsche? „Das habe ich getan“, sagt mein Gedächtnis. „Das kann ich nicht getan haben“ - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich.

Endlich gibt mein Gedächtnis nach. Insgesamt lässt sich sagen, dass der Mensch ein gutes Bewusstsein dafür hat, wenn ihm Unrecht angetan wird, aber oft merkwürdigerweise weniger Sensibilität dafür, wenn er Unrecht verübt. Ein Opfer zu sein, ist meistens leichter, als sich mit der Täterseite auseinanderzusetzen. Zu wissen, dass man sich schuldig gemacht hat und für seine Handlungen Verantwortung zu zeigen, ist oft nicht einfach. Sich damit auseinanderzusetzen kann aber zu seelischem Wachstum führen. Ein gesundes Gefühl dafür zu haben und mit einem schlechtem Gewissen zu reagieren, wenn man Schuld auf sich geladen hat, an den anderen zu denken, wenn man handelt, ist ein Zeichen von seelischer Gesundheit.

Fehlendes Schuldbewusstsein, verdrängte Schuld ist nicht gut, auch wenn es manchmal notwendig ist, weil das Bewusstsein der Taten zu schmerzlich sein könnte. Die Konfrontation mit der eigenen verdrängten Schuld erfordert Stärke. Leichter ist es oft, den anderen die Schuld zu geben und im Opferstatus zu verharren. Schuld zu tragen ist nicht leicht. Sich dem zu stellen kann gut sein, Reue oder Konfrontation mit den Gründen und inneren Konflikten, die dazu geführt haben, kann zur Freiheit führen. Sich seiner Schuld zu stellen ist ein Zeichen von Selbstverantwortung und Autonomie.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 03/2021 auf Seite 14.

Zur Person
Professor Dr. Aglaja Stirn ist Direktorin des Instituts für Sexualmedizin und forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Gruppentherapie, Psychoanalyse und Sexualtherapie an der Universität Kiel, Zentrum für Integrative Psychiatrie ZIP.
www.zip-kiel.de 

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