Illustration eines Gehirns.© Feodora Chiosea / iStock / Getty Images Plus
Die dauerhafte Angst vor Schmerzen kann zu Veränderungen der Hirnstrukturen führen.

Schmerzgedächtnis

CHRONISCHER SCHMERZ LÖST GEHIRNVERÄNDERUNGEN AUS

„Chronische Erkrankungen sind wie ein unbefristeter Mietvertrag mit Mitbewohnern, die man sich nicht ausgesucht hat – man muss lernen, mit Ihnen zu leben. Die Frage ist, bleiben sie als Gast oder erheben sie Anspruch auf das größte Zimmer?“

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Samira kenne ich seit sie sechs war – vom Fußballverein. Sie hat mit meinem Sohn gekickt und konnte in Schnelligkeit und Durchsetzungsvermögen locker mit den Jungs mithalten. Dann hat sie zum Tennis gewechselt und trainierte dort auf höchster Landesebene, dadurch habe ich sie aus den Augen verloren. 

Nach mehr als 15 Jahren traf ich sie nun wieder und ich kann mir nicht vorstellen, dass diese leistungsfähige, strahlende junge Frau, die gerade in England mit Bravour ihr Medizinstudium abgeschlossen hat, inzwischen einen solchen Leidensweg durchgemacht hat.

Der lange Weg zur Diagnose

Hinter ihr liegen zweieinhalb Jahre chronische Bauchschmerzen. Aber die Schmerzen waren nicht das Schlimmste, sagt die heute 24-Jährige.

„Der chronische Schmerz ist ein Rudeltier – er bringt immer seine Komplizen mit: die Angst, die Ungewissheit, die Schlaflosigkeit, den Stress und das Schmerzgedächtnis“.

Diese Komplizen wurden zu ständigen Begleitern und nahmen einen immer größeren Raum in ihrem Leben ein – mehr Raum als der Schmerz selbst. Samira hatte letztlich Glück im Unglück. Nach monatelanger Ärzte-Odyssee, zahlreichen Fehldiagnosen, mehreren Magen- und Darmspiegelungen, Antibiotika- und Schmerzmittelbehandlungen, Diäten sowie verschiedenen Naturheiltherapien bekam sie eine operable Diagnose: Dunbar-Syndrom.

Die organische Ursache der Schmerzen war durch die Operation behoben – die lästigen Mitbewohner blieben.

Das Dunbar-Syndrom ist eine chronische Durchblutungsstörung des Magens, die durch eine Einengung der Oberbaucharterie, des Truncus coeliacus, zustande kommt. Betroffene leiden unter Schmerzen, teilweise krampfartigen Beschwerden im Oberbauch, Übelkeit und Erbrechen. Meistens treten die Symptome im Anschluss an eine Mahlzeit ein.

Entstehung des Schmerzgedächtnisses

Über den Umgang mit den Komplizen des Schmerzes und deren medizinische Hintergründe sowie über die positive Psychotherapie, die zwar den Schmerz nicht wegzaubert, aber seine Komplizen in ihre Schranken verweisen kann, schrieb Samira Peseschkian nun einen Ratgeber, der Patienten mit chronischen Schmerzen unterstützen möchte.

„Wichtige Rollen in der Performance des chronischen Schmerzes spielen die Angst und das Schmerzgedächtnis“.

Beim Schmerzgedächtnis handelt es sich um neuroplastische Veränderungen im Rückenmark und Gehirn. Wissenschaftler halten diese Neuroplastizität für die Ursache, dass akute Schmerzen in chronische übergehen. Denn werden bestimmte Nervenbahnen verstärkt genutzt – das kann im positiven Sinne das tägliche Üben auf einem Musikinstrument sein, aber eben auch der ständige Schmerzreiz – dann entstehen zusätzliche Verknüpfungen zwischen den Synapsen durch verstärkende Interneurone. 

Das Buch und seine Autorin
Samira Peseschkian, Professor Dr. Nossrat Peseschkian: Der Schmerz und seine Komplizen. Herder Verlag, 176 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-451-60255-9

Dies führt dazu, dass der Reiz schneller weitergeleitet wird. Man spricht von Gedächtnisspuren – sie sind quasi die Überholspur auf der Nervenautobahn. Bildgebende Verfahren konnten sogar zeigen, dass es bei chronischen Schmerzen zu einem umfangreichen Umbau in der Gehirnrinde kommt und sich die Areale der kortikalen Repräsentation der schmerzenden Stelle vergrößern. 

Ein Rückbau dieser „Fastlane“ ist schwierig, aber möglich, denn ebenso wie dauerhafter Gebrauch zur ihrer Entstehung beiträgt, führt die Nutzung alternativer Routen beispielsweise über eine gemütliche Landstraße dazu, dass die Schnellstraßen verkümmern. Meditation, Achtsamkeit und Verhaltenstherapie gehören zu den Methoden, die diesen Prozess des Rückbaus unterstützen.

Angst vor Schmerzen führt zu Schmerzen

Ein besonders unangenehmer Begleiter des Schmerzes ist die Angst: „Die Angst und die Erwartungshaltung, dass bei der nächsten Mahlzeit wieder Bauchschmerzen auftreten, ging bei mir so weit, dass ich den Schmerz schon spürte, sobald ich am Tisch vor einer Mahlzeit saß.“ 

Angst gehört zu den wichtigsten Antriebskräften des Lebens. Sie führt dazu, dass wir bedrohlichen Situationen auszuweichen, ist also praktisch die körpereigene Alarmanlage mit oberster Priorität. „Haben wir Angst vor etwas, müssen wir uns zwangsläufig auf diese Angst fokussieren. Wir sehen, hören und fühlen nur noch das, was unsere Befürchtungen bestärkt.“ 

Brief an den Schmerz schreiben

Der Neurologe und Psychiater Nossrat Peseschkian, Begründer der positiven Psychotherapie, empfahl seinen Patienten, einen Brief an ihre Krankheit zu schreiben. Dieser dient als Reflexionsmedium, um die Symptome aus der Distanz in all ihren Facetten zu betrachten, und will Menschen in Krisensituationen eine Handlungsoption aufzeigen. Eine Anleitung zum Verfassen und zahlreiche Beispiele eines solch ungewöhnlichen Schreibens gibt uns seine Enkelin Samira in ihrem Buch. Mehr Informationen unter: samira.peseschkian.org

Medizinisch erklärt die frischgebackene Ärztin das Phänomen so: Unser Angstzentrum sitzt in der Amygdala, einem mandelförmigen Kerngebiet des limbischen Systems. Es funktioniert wie eine Alarmanlage. Ein Geräusch, eine Berührung versetzen den Körper blitzschnell in Alarmbereitschaft.

Die Kontrollzentrale unseres Gehirns, der präfrontale Cortex, überprüft daraufhin, ob die Panik überhaupt berechtigt ist und stellt den Alarm gegebenenfalls wieder ab. Wann die Alarmglocken klingeln, ist allerdings sehr individuell. Während es bei dem einen der Grizzlybär sein muss, reicht bei anderen die Spinne an der Wand aus oder ein Vortrag vor Publikum, um die Sirene auszulösen.

Dauerhafte Angst schafft Gehirnveränderungen

Ob die Situation objektiv eine Bedrohung für Leib und Leben ist, spielt dabei keine Rolle. Es geht lediglich um das subjektive Empfinden von Angst. „Und es ist so“, erläutert die Medizinerin die Vorgänge, „dass die Amygdala frühere bedrohliche Situationen archiviert.“ Hat eine Situation eine schlechte Erinnerung bei ihr hinterlassen, ist für diesen Stressor eine negative Rückkopplung und der Alarm vorprogrammiert. Und je häufiger das Zentrum die Bedrohung wahrnimmt, umso stärker wird ihre Reaktion. 

Viele chronische Schmerzpatienten haben vermehrt Angst oder Angststörungen. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass der Mandelkörper in einem Zustand der dauernden Alarmbereitschaft, beispielsweise bei Angststörungen und Depressionen, sogar sein Volumen vergrößert.

Das Problem bei chronischen Schmerzpatienten ist, dass der regulierende Eingriff des rationalen präfrontalen Cortex mit der Zeit reduziert wird, das heißt, er schafft es nicht mehr, den Alarm abzuschalten, wenn er unbegründet ist, also gar keine Noxe vorliegt.

„Irgendwann reagiert das Angstzentrum so sensibel, dass die Spinne nicht mehr auf dem Arm krabbeln muss, sondern bereits ein Spinnennetz in einer Ecke den Alarm auslöst. Oder wenn wir auf das Beispiel des chronischen Schmerzes zurückkommen, ist es so, dass bereits die Angst vor dem Schmerz die Sirenen zum Heulen bringt. Für mich hatte das zur Folge, dass ich immer weniger gegessen habe, aus Angst vor dem auftretenden Schmerz und der Übelkeit.“

Krankheit ist nicht eingebildet

Peseschkian hält es für wichtig, dass den Betroffenen der medizinische Hintergrund bewusst ist. So haben sie einerseits nicht das Gefühl, sie hätten sich die Erkrankung nur eingebildet, andererseits verstehen sie auch besser, wie sie durch Verhaltensänderung Einfluss auf den Schmerz nehmen können.

Denn die Patienten haben zwei Möglichkeiten, mit der Angst umzugehen: Vermeidung oder Konfrontation. Niemand möchte natürlich freiwillig Schmerzen erleiden, deshalb vermeiden die Betroffenen alles, was nach ihrer Befürchtung Schmerzen auslösen könnte. Auf lange Sicht führt das jedoch dazu, dass sich die Angst verstärkt, da der Zusammenhang zwischen dem Trigger und dem Schmerz gar nicht mehr überprüft wird.

Verhaltenstherapie und Konfrontation

In der Verhaltenstherapie geht man davon aus, dass störungsbedingtes Verhalten erlernt ist und entsprechend auch wieder verlernt beziehungsweise durch positive Denk- und Verhaltensweise überlagert werden kann. Die Konfrontation mit den Angsttriggern hingegen führt zwar am Anfang zu Schweißausbrüchen, langfristig jedoch findet eine Gewöhnung statt – die sogenannte Habituation, die langfristig zu einer Reduzierung der Emotion führt.

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