© Sibylle Fendt / OSTKREUZ
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Bücher, von denen man spricht

MAMA, DU BLEIBST BEI MIR

„Meine Mutter zu pflegen war die beste Entscheidung meines Lebens.“ Die Journalistin Ruth Schneeberger ist 29 Jahre alt, als sie ihre schwer kranke Mutter nach einem Schlaganfall zu sich nimmt.

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Glückliche Momente Schneeberger sagt: „Meine Mutter war glücklich. Dass sie überlebt hat. Dass sie zuhause sein durfte. Dass wir uns um sie kümmerten. Dass sie keine Angst mehr haben musste. Dass wir bei ihr waren. Ich gehe soweit zu behaupten: Die Jahre, in denen meine Mutter gepflegt wurde, gehörten zu den glücklichsten ihres Lebens.“ Samstags hat Schneeberger frei, und dann geht es mit der Mutter im Rollstuhl zum „Ausgehtag“ in die Stadt. Die Mutter liebt das und sucht oft am Vorabend Schmuck aus ihrer Schatulle aus. Nachdem Make-up aufgelegt und die hübschesten Kleider angezogen wurden, gehen die beiden Schneebergers shoppen. So lange, bis der Kleiderschrank der Mutter überquillt. Natürlich hat nicht jeder die Möglichkeit der Pflege zuhause. Und auch eine solch enge Bindung zum Pflegebedürftigen ist beileibe nicht die Regel.

Deshalb wird auch nicht jeder in dieser Situation dieselbe Entscheidung treffen wie Ruth Schneeberger. Trotzdem: Der deutschen Ärztezeitung zufolge pflegt fast jeder zehnte Deutsche. Ab fünfundsechzig Jahren kümmert sich beispielsweise jeder zweite um seinen hilfsbedürftigen Partner. Gepflegt wird aber in jedem Alter, sogar von Kindern. Zur Drucklegung des Buches gab es deutschlandweit fast eine Viertelmillion pflegende Kinder. Ruth Schneeberger berichtet von den Herausforderungen, vor die sie die häusliche Pflege stellt. Sie berichtet von den Rückschlägen durch Krankenkassen, dem Unvermögen mancher Ärzte und Pfleger, von der manchmal mangelhaften Wertschätzung den Patienten gegenüber und der geringen Unterstützung, die sie selbst im Rahmen der häuslichen Pflege ihrer Mutter erfährt. Sie erwähnt aber auch den Pfleger Michael, die Pflegerin Constanze, die fast zu Familienmitgliedern werden und deutlich mehr Engagement zeigen, als die Bezahlung es eigentlich hergibt. Den Hausarzt, über 60 Jahre alt, der noch Hausbesuche macht.

Das Geld reicht nicht Denn eigentlich ist es so: „Eine Vierundzwanzig-Stunden-Pflege durch ausgebildetes Pflegepersonal ist in Deutschland nicht bezahlbar. Da kommen schnell dreißigtausend Euro im Monat zusammen. Deshalb greifen viele Angehörige auf Agenturen zurück, die Pflegerinnen aus osteuropäischen Ländern vermitteln.“ Schneeberger fragt: „Warum werden Angehörige nicht besser unterstützt? Das würde viele Probleme auf einmal lösen. Und wieso werden Pflegekräfte so schlecht bezahlt, obwohl Deutschland händeringend nach ihnen sucht?“

Neben den negativen Erfahrungen, die Ruth Schneeberger und ihre Mutter machen mussten, möchte die Journalistin jedoch vor allem Mut machen – und zwar denjenigen, die sich für die Pflege ihrer Angehörigen zu Hause entscheiden. Ihr Buch liest sich als Plädoyer, das Wagnis häusliche Pflege einzugehen, denn dort steht nicht der zu erwirtschaftende Gewinn im Fokus, sagt sie, sondern der Mensch selbst. Doch sie regt dringend an, dass sich im Bereich der Pflege etwas ändern muss – zum Beispiel, dass das Geld auch bei den Pflegekräften ankommen soll.

Der Abschied Als ihre Mutter nach einer Lungenentzündung im Krankenhaus stirbt, verabschiedet sich Ruth Schneeberger in einem stillen Nebenraum der Klinik von ihr und bemerkt verwundert ihren friedlichen, ruhigen Gesichtsausruck. Sie begreift, dass es auch für den Tod einen rechten Zeitpunkt gibt. „Sie war einfach zu krank geworden, um in Ruhe weiterleben zu können. Am Schluss hatte sie nicht mehr genügend Kraft. Die Situation war für uns beide unerträglich geworden, und der Tod war tatsächlich eine Erlösung. Ich hatte alles dafür getan, dass es ihr zu Lebzeiten gut ging.“

Schneebergers Buch trägt den Untertitel „Vom Glück und Unglück, einen Angehörigen zu pflegen“, denn „Pflege kann eine glücklich machende Erfahrung sein, extrem bereichernd, auch für einen selbst.“ Es soll den Menschen, die es wagen, Mut machen, das Wagnis häuslicher Pflege einzugehen. Denn in den eigenen vier Wänden dreht sich nichts um den finanziellen Gewinn, sondern alles um die Hauptperson: den Patienten.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 02/2020 ab Seite 116.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

Ein halbes Jahr Lebenszeit – das hatten die Ärzte ihr prophezeit, als Ruth Schneebergers lebenslustige, starke Mutter von einem Tag auf den anderen ein Pflegefall wird. Die Kommunalpolitikerin war ihr Leben lang für andere da und engagierte sich besonders gern für die Schwächeren, zog daneben zwei Kinder groß. „Sie war unermüdlich“, erinnert sich die Tochter.

„Sie hat sich um Obdachlose, Flüchtlinge, ihre eigene Mutter im Alter, kleine Kinder, hilflose Tiere gekümmert. Doch als sie selbst Hilfe benötigte, versagten die gängigen Hilfsangebote kläglich. Hätte ich sie nicht gepflegt, wäre meine Mutter binnen kürzester Zeit gestorben.“ Das Lieblingszitat der Mutter ist ein Satz von Erich Kästner: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“. Jetzt kann sie nicht mehr sprechen und muss im Rollstuhl gefahren werden, trägt Windelhöschen und bekommt Spezialnahrung.

Die Quadratur des Kreises Ruth Schneeberger trifft die Entscheidung, die Betreuung ihrer Mutter zuhause zu organisieren. Nicht mal ihr Bruder, der später katholischer Priester werden wird, versteht das anfangs. Aber sie setzt sich durch: Nach dem Reha-Aufenthalt der Mutter zieht man ein in die Nachbarwohnung, ein Glücksfall, mitten in München. Der Bruder übernimmt allen Schriftkram mit Krankenkasse, Pflegekasse, Behörden, am Ende sind es fünfzig prall gefüllte Aktenordner. Sie selbst geht Vollzeit arbeiten, in der Redaktion der Süddeutschen Zeitung. Es scheint unmöglich mit einem Pflegefall der Stufe fünf. Und doch überlebt Schneebergers Mutter ihre mittlerweile zwei Schlaganfälle um zehn Jahre.

Für beide war es eine erfüllte und glückliche Zeit: Das Buch ist ein Plädoyer für die Pflege zuhause, denn Schneeberger sagt nicht zu Unrecht, dass niemand sich so gut um Angehörige kümmern kann wie die Familie. Das beginnt bei Kleinigkeiten: „Ich wusste, dass sie keine Süßigkeiten isst. Mit einem Stück Kuchen konnte man ihr keine Freude machen, wohl aber mit einem Brathering oder einer sauren Gurke. Auf ein belegtes Brot durfte bloß keine Butter, dafür aber viel Senf. Und im Fernsehen wollte sie keine Liebesfilme schauen, sondern knallharte Thriller.“ Und es endet bei der familieninternen Geheimsprache, die sich in Gesten ausdrückt. Sagen kann die Mutter nämlich nur noch ein einziges Wort: Mumi. Doch das in allen Betonungen. So ist sie in der Lage, Mitteilungen über ihren Zustand zu machen.

Ruth Schneeberger: „Mama, du bleibst bei mir.“ Vom Glück und Unglück, einen Angehörigen zu pflegen. Sachbuch. Hardcover mit Schutzumschlag, 288 Seiten, ISBN: 978-3-7645-0706-0, 18 Euro. Verlag: Blanvalet

 

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