© crevis / stock.adobe.com

Krebserkrankungen

JAHRTAUSENDE ALTES SCHRECKGESPENST

Tumoren kannte man schon in der Antike. Man beschrieb sie als „in der Form einem Krebs ähnelnd“. So wurde das Tier zum Namensgeber für eine der schrecklichsten Krankheiten der Medizingeschichte.

Seite 1/1 4 Minuten

Seite 1/1 4 Minuten

Professor Andreas Nerlich, Pathologe an der Universität München, weiß alles über Mumien. Seit über 20 Jahren untersucht er die einbalsamierten Leiber, um etwas über die Krankheiten der damaligen Zeit herauszufinden. Recht häufig sieht er bei den über 3000 Jahre alten Toten Löcher im Skelett, die nicht von einer Verletzung stammen, sondern so aussehen, als habe ein Tumor die Knochen angegriffen. Man kannte die Krankheit, die wir heute als Krebs bezeichnen, also schon in der Antike, doch die medizinisch hochgebildeten Ägypter hatten noch keine Therapie. So schreibt der Universalgelehrte Imhotep im dritten Jahrtausend vor Christus: „Es gibt keine Heilung“.

Erste Krebspatientin Anders soll es beim ersten dokumentierten Fall gewesen sein, der sich um 500 vor Christus ereignete und vom Geschichtsschreiber Herodot aufgezeichnet wurde. Demnach erkrankte die junge Perserkönigin Atossa an einem Knoten in ihrer Brust, der zu bluten und nässen begann. Sie wurde durch einen griechischen Sklaven geheilt, der ihr den Tumor aus der Brust schnitt, und überlebte bis ins hohe Alter. Herodots Beschreibung wäre wohl kaum beachtet worden, wäre sie nicht in einer medizingeschichtlich wichtigen Epoche erfolgt: Der Zeit des Hippokrates von Kos. Er forschte mit seinen Schülern an unterschiedlichen Geschwulsten und stellte fest, dass sie sich wie Krabben ins Fleisch eingegraben hatten, weshalb Hippokrates die Tumoren „Karkínos“, also Krebs nannte. Die besonders schweren Verlaufsformen bezeichnete er als „Karkínoma“ (Karzinom). Auch die englische Bezeichnung „cancer“ beruht auf der lateinischen Bezeichnung „cancer“ für Krebstiere. Nun hatte die Krankheit zwar einen Namen, warum sie auftritt, blieb jedoch weiterhin ein Mysterium. Auch Therapien gab es nach wie vor kaum: Hippokrates und seine Schüler schnitten äußerliche Tumore heraus oder behandelten sie mit Spülungen, doch von inneren Tumoren ließen sie die Finger.

Mysteriöser schwarzer Saft Mit Galenos von Pergamon vollzog sich dann im zweiten Jahrhundert nach Christus ein grundlegender Wechsel in der Therapie. Der in Rom praktizierende griechische Arzt sah den Menschen als Einheit von Leib und Seele und die Ursachen aller Krankheiten in einem Ungleichgewicht der vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle. Ihm zufolge entsteht Krebs durch einen Überschuss an schwarzer Galle, was durch einen Aderlass ausgeglichen werden kann. Galens Säftelehre war noch bis weit in die Renaissance die geltende Medizinlehre. Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts drang ein junger Medizinstudent wortwörtlich tiefer in die Materie ein: Andreas Vesalius kam nach Paris, um Galens Forschungen anatomisch nachzuprüfen. Weil die Pathologie nicht genug hergab, besorgte er sich Leichen von Hinrichtungen oder direkt vom Friedhof. Doch trotz aller Bemühungen – die Krebs verursachende schwarze Galle suchte er vergebens. Vesalius anatomische Studien begründeten die Abkehr von Galens Lehre, neue Therapien lieferten sie aber auch nicht. Weiterhin wurde operiert – brutal und nicht steril. Die meisten Patienten starben.

Erste Durchbrüche in der Behandlung Im 19. Jahrhundert gab es zumindest bei den Operationen endlich Fortschritte: Die Entdeckung von Diethylether als Narkosemittel und die zufällig festgestellte keimtötende Wirkung von Karbol erleichterten den Eingriff und reduzierten die Anzahl der Patienten, die durch Wundbrand starben. Und: Die Ärzte stellten fest, dass der Krebs immer wiederkam, wenn er nicht vollständig herausgeschnitten wurde. Einen wirklichen Durchbruch in der Krebstherapie gab es im ausgehenden 19. Jahrhundert, nachdem Wilhelm Röntgen die „X-Strahlen“ entdeckt hatte, die später nach ihm benannt wurden. Bald stellte man fest, dass die Strahlen vor allem sich schnell teilende Zellen schädigen und töten können. Da dies auch auf Krebszellen zutrifft, nutzte ein US-amerikanischer Arzt bereits 1896 Röntgenstrahlen, um eine Brustkrebspatientin zu bestrahlen. Damit war die Radioonkologie geboren. 46 Jahre später kam die Chemotherapie hinzu, genau wie die Radioonkologie ein Zufallsfund. Das im ersten Weltkrieg als Waffe eingesetzte Senfgas bewirkte bei den Überlebenden einen dramatischen Abfall der weißen Blutkörperchen. Dieses Prinzip kehrten die Ärzte um und setzen es 1942 bei einem Patienten mit Leukämie, einer ungehemmten Produktion weißer Blutkörperchen, ein.

Therapien gab es nun mehrere, doch warum Krebs entstand, war immer noch ein Rätsel. Ende des 18. Jahrhunderts kamen erste Theorien zu Umweltgiften als Auslöser auf. So beschrieb etwa der britische Arzt Percivall Pott 1775 die Häufung von Hodenkrebs bei Schornsteinfegern, die ständig Ruß ausgesetzt waren. In Deutschland begann man Anfang des 20. Jahrhunderts, die Krebsfälle systematisch zu erfassen. Der Vorläufer des Deutschen Krebsregisters entstand, und mit ihm erkannte man auch zum ersten Mal Zusammenhänge zwischen toxischen Stoffen und Krebserkrankungen. Im Prinzip hatte man die therapeutischen Mittel, um das unkontrollierte Zellwachstum zu stoppen, doch das schlug sich nicht auf die Überlebensrate nieder, weil man noch nicht genug über die veränderten Prozesse in den Krebszellen wusste.

Hin zur individuellen Behandlung Dies änderte sich erst mit der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts, die völlig neue Diagnose- und Therapiemöglichkeiten eröffnete. Statt mit Radio- oder Chemotherapie unterschiedslos alle sich rasch teilenden Zellen zu zerstören, wurde die Therapie zunehmend gezielter. Seitdem gilt: Wer Krebs wirksam bekämpfen will, muss die Therapie individuell gestalten. Man kennt mittlerweile über 200 Krebsarten mit mehreren hundert Subformen. Für viele davon wurden bereits Wirkstoffe entwickelt, wobei manche oft nur bei bestimmten genetischen Defekten einer Tumorart wirksam sind. Targeted therapy ist das Zauberwort. Man setzt monoklonale Antikörper und „small molecules“ ein, die gezielt in die gestörten Signalwege von Tumorzellen eingreifen. Andere Wirkstoffe verhindern, dass der Tumor neue Blutgefäße bilden kann oder ermuntern das körpereigene Immunsystem zum Angriff auf die Krebszellen. Auch in der Diagnose hat sich viel getan. Mithilfe von Gentests kann das Risiko für spätere Krebserkrankungen bestimmt und so präventiv gehandelt werden. Bildgebende Verfahren können immer kleinere Tumoren sichtbar machen, sodass der Krebs früher und damit meist erfolgreicher therapiert werden kann.

Ein neues Diagnosetool zur Früherkennung ist die Liquid Biopsy, mit der ein möglicher Krebsbefall bereits in einer Blutprobe nachgewiesen werden soll. Denn auch Krebszellen sterben ab, sodass ihre Zerfallsprodukte im Blut nachweisbar sind. Noch ist dieses Verfahren am Anfang der Entwicklung, doch es könnte belastende Untersuchungsmethoden ersetzen oder ergänzen. Den Krebspatienten stehen heute sehr weit entwickelte Diagnose- und Therapiemöglichkeiten zur Verfügung. Bei vielen Krebsarten konnten so die Todeszahlen drastisch gesenkt werden. Sicherlich wird der Krebs nie ganz besiegt werden, doch die Wissenschaft arbeitet daran, ihn zu einer chronischen Erkrankung zu machen, mit der man gut leben kann. 

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 04/19 ab Seite 24.

Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist

×