Ein Mann liegt im Krankenhaus auf der Intensivstation. Um sein Bett stehen zwei Pflegekräfte. Er wird beatmet.© Povozniuk/ iStock / Getty Images Plus
Beim Guillain-Barré-Syndrom leiden die Betroffenen an einer Muskelschwäche, die auch die Atemmuskulatur lähmen kann.

Guillain-Barré-Syndrom

SELTENE NERVENKRANKHEIT LÖST NOTSTAND AUS

Im Juli rief Peru wegen einer mysteriösen Häufung einer Nervenkrankheit den Notstand aus. Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) wird unter anderem mit Corona-Impfungen in Zusammenhang gebracht. Ist das die Ursache? Und was ist GBS eigentlich?

Seite 1/1 6 Minuten

Seite 1/1 6 Minuten

Zwischen Januar und Juli 2023 gab es in Peru insgesamt 182 Fälle von GBS, vier davon mit tödlichem Ausgang. Müssen wir in Europa jetzt Angst haben?

Die WHO sagt: nein. Was dramatisch klingt, ist näher betrachtet nichts Neues. Bereits 2019 gab es eine große Zahl von GBS-Fällen in Peru, deren Ursache aber etwas Alltägliches sein könnte. Ein Überblick über die Krankheit und wie sie mit Corona zusammenhängt.

Was ist GBS?

Es handelt sich hier um eine Nervenerkrankung, die in der Normalbevölkerung bei einem bis zwei von 100 000 Menschen auftritt. Die Betroffenen leiden an einer aufsteigenden Muskelschwäche, die zu Lähmungserscheinungen führen kann. Bei knapp einem Drittel der Erkrankten betrifft die Lähmung auch die Atemmuskulatur. Die Patienten müssen dann beatmet werden.

Charakteristisch für GBS sind zunächst Kribbeln und Kraftverlust in den Extremitäten, die sich nach und nach verstärken und binnen zwei bis vier Wochen ihren Höhepunkt erreichen. Man behandelt die Erkrankung mit speziellen Immunglobulinen aus Spenderblut, mit denen viele entzündliche Autoimmunerkrankungen therapiert werden.

Die meisten Betroffenen erholen sich nach der Behandlung innerhalb von Wochen bis Monaten, bei rund zehn Prozent bleiben allerdings Nervenprobleme zurück. Die Sterblichkeit schwankt zwischen einem und 13 Prozent.

GBS nach Infektionen

Meist, davon geht die Wissenschaft aktuell aus, tritt GBS nach einer Infektion auf, die selbst oft mild verläuft. Atemwegsinfektionen, zum Beispiel mit SARS-CoV 2 oder Influenza, aber auch mit anderen Viren wie Zika, HIV oder Eppstein-Barr-Virus können ein GBS nach sich ziehen. Die häufigste Infektion, nach der die Erkrankung vorkommt, ist allerdings die mit Campylobacter jejuni. Dieses Bakterium steckt weltweit hinter den meisten Magen-Darm-Infekten.

Das Guillain-Barré-Syndrom tritt am häufigsten nach einer Infektion mit dem Magen-Darm-Bakterium Campylobacter jejuni auf.

Auch in Peru ist der Erreger kein Unbekannter: Zwischen Mai und Ende Juli 2019 verzeichnete das peruanische Gesundheitsministerium schon einmal eine auffällige Häufung von rund 700 GBS-Fällen. Hier vermutet die WHO eine vorausgegangene Welle von Campylobacter jejuni als Ursache. Nach durchgemachter Infektion mit diesem Bakterium, das oft in rohem Geflügel vorkommt, tritt GBS nämlich rund 100-mal häufiger auf als in der Normalbevölkerung.

Was löst GBS aus?

Die Ursache von GBS ist noch nicht vollständig geklärt. Man weiß aber, dass es sich um eine Autoimmunreaktion handelt. Körpereigene Antikörper greifen die Ummantelung von Nervenzellen oder die Nervenzellen direkt an und schädigen sie so.

Das führt dann zu den typischen Symptomen, weil die betroffenen Nervenzellen Impulse nicht mehr richtig weiterleiten können. Missempfindungen wie Kribbeln und zunehmende Funktionsausfälle der betroffenen Muskulatur sind die Folgen.

Molekulares Mimikry

Wissenschaftler vermuten das sogenannte molekulare Mimikry als Entstehungsmechanismus.

Gefährliche Verwechslung: Was ist Molekulares Mimikry?
+ Bestandteile des Erregers, meist Eiweiße, ähneln hier zufälligerweise körpereigenen Molekülen.
+ Die Abwehrreaktion unseres Immunsystems erzeugt dann Antikörper, die eigentlich den Erreger bekämpfen sollen.
+ Aufgrund der strukturellen Ähnlichkeiten reagieren die Antikörper aber auch auf die körpereigenen Moleküle. Und zwar auf Bestandteile der Zellmembran, sogenannte Ganglioside.

Bei GBS bilden sich Antikörper gegen Ganglioside, die besonders häufig in Nervenzellen vorkommen. Die Folge ist eine Schädigung der Nervenzellen durch die Immunreaktion. Im Gegensatz zur irreversiblen Zerstörung der Myelinscheiden um die Nervenbahnen bei Multipler Sklerose sind die Schäden bei GBS häufig reversibel.

Bisher ist nicht bekannt, welche Virusbestandteile jeweils den Prozess auslösen, und somit weiß man auch nicht, auf welche körpereigenen Zielproteine entsprechende Antikörper dann gerichtet sind. Ebenso wenig gibt es bisher eine eindeutige Erklärung, warum GBS bei manchen Menschen auftritt und bei anderen nicht.

Kriminalistischer Spürsinn nötig

Die Ursache für den aktuellen Ausbruch in Peru zweifelsfrei zu finden ist schwierig. Indizien sprechen bisher für Campylobacter jejuni, aber Beweise fehlen und dürften auch schwer zu erbringen sein. Die Häufung der Fälle in einem kurzen Zeitraum allein deutet auf einen epidemisch auftretenden Erreger hin, aber deren Anzahl ist unüberschaubar.

Erreger bestimmt GBS-Subtyp, Subtyp verrät Erreger

GBS tritt in verschiedenen Ausprägungen und Subtypen auf. Möglicherweise lassen sich diese Unterschiede mit den variablen Erregerstrukturen erklären. Also mit der großen Bandbreite an möglichen körpereigenen Zielstrukturen.

  • Die sogenannte akute inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (AIDP) tritt zum Beispiel nach Infektionen mit Zika-Virus oder SARS-CoV 2 auf. Hier greifen die Immunzellen die Ummantelung der Nervenfortsätze an.
  • Die akute motorische axonale Neuropathie (AMAN) betrifft die Nervenfortsätze selbst. Sie findet man nach Infektionen mit Campylobacter jejuni.

Die Erfassung der Subtypen, die in Peru aufgetreten sind, sowie weitere epidemiologische Daten und die Befragung Betroffener könnten Hinweise auf die Ursache geben. Der befristete Notstand für drei Monate ermöglicht es der peruanischen Regierung, gezielt Immunglobuline zur Therapie zu beschaffen, die epidemiologische Überwachung zu intensivieren und die Referenzlabore zu verstärken, die zur Probenanalyse gebraucht werden. Es handelt sich somit um eine bürokratische Maßnahme, die dramatischer klingt, als sie tatsächlich ist.

Dass Peru den Notstand ausgerufen hat, ist eine bürokratische Maßnahme. Sie ermöglicht es der Regierung, Immunglobuline zur Therapie zu beschaffen und mehr Proben zu analysieren.

Ist die Corona-Impfung ein Risikofaktor?

GBS kann aber nicht nur nach Infektionen auftreten. Auch Impfungen, speziell gegen SARS- CoV-2, stehen immer wieder im Verdacht, GBS auszulösen. Bei den beiden Vektorimpfstoffen gegen das Virus von Johnson & Johnson und AstraZeneca wird GBS als sehr seltene Nebenwirkung im Beipackzettel aufgeführt.

Dass GBS auftreten könnte, hatte die Gesundheitsbehörde in den USA erwartet und daher besonderes Augenmerk auf diese mögliche Nebenwirkung gelegt. Sie hat nun die Daten ausgewertet, die zwischen Dezember 2020 und Januar 2022 bei ihrem Meldesystem für Impfnebenwirkungen eingetroffen waren. Die Zahlen sind eindeutig.

Innerhalb eines Zeitraumes von 21 bis 42 Tagen nach der Impfung mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson waren die Fallzahlen von GBS neun- bis zwölfmal so hoch wie nach einer Impfung mit einem der beiden mRNA-Impfstoffe von Pfizer/BioNTech oder Moderna.

Insgesamt umfasst die Analyse der US-Gesundheitsbehörde über 487 Millionen Impfdosen, bei denen 295 Fälle von GBS auftraten, meist innerhalb der ersten 21 Tage. Über 90 Prozent der Betroffenen mussten im Krankenhaus behandelt werden. Mit 3,29 Fällen pro 1 Million verabreichter Impfdosen ist das absolute Risiko, an GBS zu erkranken, aber auch bei Vektorimpfstoffen gering, so die Behörde.

Bei mRNA-Impfstoffen spielt GBS keine relevante Rolle. Bei Vektorimpfstoffen besteht ein geringes Risiko, an GBS zu Erkranken. Das Risiko durch eine Infektion mit SARS-CoV-2 ist jedoch wesentlich höher.

Bei mRNA-Impfstoffen, die insgesamt bei über 96 Prozent der überwachten Impfungen verwendet wurden, spielte die Erkrankung keine statistisch relevante Rolle. Deshalb wurde sie nicht als mögliche Impfnebenwirkung aufgenommen.

Auch in Europa, wo der Vektorimpfstoff von AstraZeneca öfter verimpft wurde als der in den USA gängigere von Johnson & Johnson, hat man die Zahlen im Blick. Binnen der ersten 14 Tage nach der Impfung trat hier ebenfalls gehäuft GBS auf. Die Fallzahlen erhöhten sich um das 1,4- bis 10-fache.

Wieso kann es bei Vektorimpfstoffen zu GBS kommen?

Experten vermuten einen Zusammenhang zwischen der Vektor-Technologie und GBS. Als „Transporter“ für das Antigen bei dieser Art der Impfung dient ein nicht vermehrungsfähiger Virus. Bei den Vektorimpfstoffen von Johnson & Johnson und AstraZeneca handelt es sich um Adenoviren. Weitere Untersuchungen sind hier nötig.

Infektion gefährlicher als Impfung

Fest steht: Es ist möglich, nach einer Impfung mit einem der beiden Vektorimpfstoffe an GBS zu erkranken. Allerdings erhöht eine durchgemachte Infektion mit SARS-CoV-2 das Risiko für GBS wesentlich stärker. Hier trifft die Erkrankung bei 100 000 Infektionen 15 Betroffene. Möglicherweise spielt hier ein höheres Lebensalter der Patienten eine Rolle, aber genau weiß man das noch nicht.

Wie es in Peru nun weitergeht, wird sich zeigen. Warum ausgerechnet hier zwei Häufungen von GBS in vier Jahren auftraten, wird vielleicht nie ganz geklärt.

Quellen:
https://www.who.int/emergencies/disease-outbreak-news/item/2023-DON477
https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Mysterioese-Haeufung-von-GBS-in-Peru-441044.ht
https://www.spektrum.de/news/was-steckt-hinter-dem-guillain-barre-syndrom/2158539
https://www.gelbe-liste.de/neurologie/guillain-barre-syndrom-covid-19-impfung
https://www.akdae.de/arzneimittelsicherheit/bekanntgaben/newsdetail/guillain-barre-syndrom-im-zusammenhang-mit-covid-19-vaccine-astrazeneca-vaxzevriar-aus-der-uaw-datenbank
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/127607/Studie-Auch-COVID-19-koennte-ein-Guillain-Barre-Syndrom-triggern 

×