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Politik

ES IST NICHT ALLES GOLD, WAS GLÄNZT

Jahr für Jahr kommen hier zu Lande im Durchschnitt etwa zwei Dutzend neue Wirkstoffe auf den Markt. Ihre Wirksamkeit ist durch klinische Prüfungen belegt. Herausragende therapeutische Fortschritte sind jedoch selten.

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Das Gesundheitswesen in Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Medizinischer Fortschritt, demografische Entwicklung, Qualität und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung sind zentrale Themen. Immer wieder im Fokus ist auch der Arzneimittelbereich. Nicht verwunderlich. Denn die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung beliefen sich im Jahr 2011 auf rund 33 Milliarden Euro.

Als Hauptkostentreiber gelten patentgeschützte Arzneimittel. Dies soll vor allem daran liegen, dass Deutschland bis vor kurzem zu den wenigen Ländern gehörte, in dem Hersteller die Preise für solche Präparate frei festlegen konnten. Seit dem 1. Januar 2011 sind für innovative Arzneimittel Nutzenschnellbewertungen und Preisverhandlungen zwischen Industrie und Kassen vorgeschrieben. Scheininnovationen sollen nur noch zum niedrigen Festbetrag vergütet werden.

Auch wenn Pharmafirmen bei der Entwicklung von Arzneimitteln das Wohl der Patienten im Auge haben, sind es vor allem Wirtschaftsunternehmen, die Profit machen müssen. Im Kampf um Marktanteile und Umsatz sind Neuentwicklungen zum Erfolg verdammt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn Unternehmen bei der Vermarktung neuer Arzneimittel viel Geld „in die Hand nehmen” und auch kleine therapeutische Fortschritte intensiv bewerben.

Tatsächliche Sprunginnovationen: selten Sie liegen nach der Definition der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft vor, wenn Arzneistoffe völlig neu entwickelt wurden und als erster Vertreter einer neuen Stoffklasse einen bedeutenden therapeutischen Fortschritt markieren. Solche Sprunginnovationen bedürfen keines großen Marketings. Sie werden in Fachkreisen schnell publik.

Der Fortschritt kommt in der Regel jedoch in kleinen Schritten. Das wird in der nicht immer sachlich geführten Diskussion rund um innovative Arzneimittel gerne vergessen. Denn nicht selten weisen Sprunginnovationen noch Schwächen auf. Sei es, dass sie ungünstige pharmakokinetische Eigenschaften haben oder zu wenig selektiv für die gewünschte Zielstruktur sind. Durch schrittweise Strukturveränderungen und neue Darreichungsformen lassen sich meist die pharmakologischen Wirkungen optimieren. Deshalb spricht man auch von Schrittinnovationen.

Wahrer Fortschritt? Unter den Innovationen finden sich regelmäßig so genannte Scheininnovationen, auch Pseudoinnovationen und me-too-Präparate genannt. Sie weisen im Vergleich zu einem früher eingeführten Arzneistoff keine oder bestenfalls marginale therapeutische Unterschiede auf und stellen eine „echte Herausforderung“ für die Marketingabteilungen der Unternehmen dar. Soweit die Theorie.

Die praktische Abgrenzung ist nicht immer einfach. Die Übergänge zwischen Schritt- und Scheininnovation sind oft fließend. Insbesondere zum Zeitpunkt der Zulassung beziehungsweise der Markteinführung ist die Datenlage zum tatsächlichen Nutzen meist noch gering. Die arzneimittelrechtliche Zulassung gewährleistet, dass ein Medikament wirksam, sicher und grundsätzlich für die Behandlung der zugelassenen Indikation geeignet ist.

Als Beleg der therapeutischen Wirksamkeit reichen oft Studien, die für so genannte Surrogatparameter – wie Blutdruck- oder Cholesterinsenkung – eine Überlegenheit gegenüber Placebo nachweisen.

Belege Der Nachweis des therapeutischen (Zusatz-)Nutzens hingegen beruht auf patientenrelevanten Endpunkten. Denn was den Patienten wirklich interessiert, ist, ob er durch das Medikament länger lebt und seine Lebensqualität verbessert wird. Meist sind zur Beantwortung dieser Fragen breite und längerfristige Anwendungen nötig, die erst nach der Zulassung möglich sind. Zum Zeitpunkt der Markteinführung ist somit bestenfalls eine Nutzenprognose einer Innovation möglich.

Inzwischen liegen Erfahrungen mit der Nutzenfrühbewertung für rund zwei Dutzend geprüfte Wirkstoffe vor, und die Ergebnisse belegen die Innovationskraft der pharmazeutischen Industrie. Immerhin zwei Dritteln attestierte der Gemeinsame Bundesausschuss einen Zusatznutzen gemessen an der bisherigen Standardversorgung, vier Wirkstoffe erhielten gar das Prädikat „beträchtlicher Zusatznutzen”. Dem therapeutischen Mehrwert muss jeweils ein angemessener Mehrpreis gegenüber stehen.

Scheininnovationen mögen aus wissenschaftlicher Sicht nützlich sein, solange sie jedoch teurer als vergleichbare Arzneimittel sind, belasten sie unnötig die Solidargemeinschaft. Der Stellenwert von Schrittinnovationen ist zweifelsohne höher einzustufen. Denn sie weisen einen therapeutischen Fortschritt auf, wenn auch keinen Durchbruch wie Sprunginnovationen. Dass die Vorstellungen in den Preisverhandlungen von Krankenkassen und Pharmaindustrie mitunter weit auseinander liegen, liegt in der Natur der Sache.

Kann man sich nicht einigen, wird der Erstattungspreis durch eine Schiedsstelle festgesetzt, wie im aktuellen Fall des neuartigen Hepatitis-C-Therapeutikums Boceprevir (Victrelis®). Mitunter sehen sich Pharmaunternehmen auch aufgrund der Nutzenbewertung gezwungen, auf eine Ausbietung im deutschen Markt zu verzichten, um negative wirtschaftliche Auswirkungen auf das Auslandsgeschäft zu vermeiden. Patienten stehen dann diese Therapieoptionen nicht oder nur als Einzelimport zur Verfügung, wie beim Antiepileptikum Retigabin (Trobalt®) geschehen.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 11/12 ab Seite 50.

Dr. Michael Binger, Hessisches Sozialministerium

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