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Darreichungsformen

ERFOLGE DER FILMINDUSTRIE

Nicht nur der Wirkstoff ist für den Effekt einer Therapie verantwortlich, auch die Hilfsstoffe und die Art der Herstellung. Warum reicht es oftmals nicht, einen Wirkstoff in mundgerechte Portionen zu pressen?

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Eine ältere Dame bringt eine angebrochene Schachtel ihrer Dauermedikation in die Apotheke. Sie ist der Überzeugung, dass die Tabletten nicht die richtigen sind. Bei genauerer Betrachtung fällt der PTA auf, dass auf der Schachtel ein Vermerk angebracht ist: Die Rezeptur hat sich verändert, es handelt sich jetzt um eine Filmtablette. Filmtabletten wurden unter anderem entwickelt, um die meist weißen Wirkstoffe differenzieren zu können. Im Fall von Viagra hat sich die blaue Farbe sogar als internationales Erkennungsmerkmal durchgesetzt. Doch neben der Identifizierung der Tablette oder, um den möglicherweise schlechten Geschmack zu verdecken, gibt es weitere tiefergehende, pharmakologische Gründe für den Einsatz von Filmtabletten.

WirkstoffresorptionAls bedeutendste und meist angenehmste Applikationsart gilt die orale Einnahme einer Tablette. Entgegen der Meinung vieler Kunden findet die Wirkstoffresorption nicht im Magen, sondern zum größten Teil im oberen Dünndarm statt. Der Grund dafür ist die besonders große, resorbierende Oberfläche. Durch eine starke Faltung der Schleimhaut wird diese auf ein Maximum von bis zu 200 Quadratmetern (m²) vergrößert. Somit ist das primäre Ziel einer systemischen Therapie den Wirkstoff möglichst schnell und in ausreichender Konzentration im Dünndarm anzureichern. Die Dauer der Magenpassage spielt dabei eine wichtige Rolle, die wiederum vom Füllungszustand des Magens abhängig ist. Falls Nahrung gleichzeitig mit der Tablette aufgenommen wird, verlängert sich die Wirkstoffverweildauer im Magen.

Auch einige Arzneimittelgruppen, wie trizyklische Antidepressiva, Muscarin-Antagonisten und Opiate verlangsamen die Weitergabe des Mageninhalts an den Dünndarm. Was zum Problem in der Akutmedikation werden kann, wird in der Langzeitmedikation zur Lösung. Bestimmte Arzneistoffe wie beispielsweise Rivaroxaban haben eine problematische Bioverfügbarkeit. Bei der gleichzeitigen Einnahme mit dem Essen verlängert sich die Verweildauer dieser Wirkstoffe im Magen und letztendlich auch im Darm. Die Resorptionsquote wird somit deutlich erhöht. Doch nicht bei allen Wirkstoffen reicht es aus, die Magen-Darm-​Passage zu verlängern. Bei vielen wichtigen Wirkstoffen würde diese Verlängerung zu einer Wirkminderung oder gar zu einem Wirkverlust führen. Die Therapie ist maßgeblich gefährdet. Um die einzelnen Unzulänglichkeiten der Wirkstoffe auszugleichen haben die Galeniker in der Industrie ihre Kreativität spielen lassen.

Das sollten Sie über Filmtabletten wissen:

+ Arzneistoffe werden größtenteils im Dünndarm resorbiert.
+ Magensaftresistente Tabletten mindestens 30 Minuten vor oder zwei Stunden nach der Mahlzeit einnehmen.
+ Povidon, Cellulosederivate und Eudragit® E sind Beispiele für schnelllösliche Filmbildner, die Wasser ziehen und somit den Wirkstoff schneller freisetzen.
+ Dragees setzen ihren Wirkstoffkern schnell frei, sind aber kostenintensiver in der Produktion.
+ Eudragit® kann je nach Zusammensetzung schnelllöslich, magensaftresistent oder unlöslich sein.
+ Schellack ist nicht für Veganer geeignet.

Filmbildner Als beratungsintensiver Überzug taucht der magensaftresistente Film oft bis zu mehrmals täglich in Beratungsgesprächen auf. Es gibt mehrere Gründe, einen Wirkstoff so zu schützen, dass er erst im Darm freigesetzt wird: Zum einen sind einige Wirkstoffe nicht säurestabil. Sie würden im Magen durch den niedrigen pH-Wert inaktiviert oder sogar zerstört werden. Wichtige Beispiele sind Penicilline. Zum anderen muss teilweise die Magenschleimhaut vor dem Wirkstoff geschützt werden. Falls diese durch Stoffe gereizt wird, werden Warnmechanismen ausgelöst, die mit Übelkeit und Erbrechen einhergehen. Als weiterer Grund ist eine mögliche Lokalbehandlung des Darms zu nennen. Da in diesem Bereich oft hohe Dosen nötig sind, darf die Freisetzung nicht zu früh erfolgen.

Verschiedene Überzüge stehen in der Praxis zur Verfügung. Eine nicht vegane Variante ist Schellack. Die Vorstufe des endgültigen Überzugs wird von einer Schildlaus produziert, mit der eigentlich ihre Eier geschützt werden sollen. Das von ihr produzierte Harz wird von den Bäumen entfernt, gewaschen, geschmolzen und geformt. Da sich noch lebende Läuse im Harz verbergen können, die dann weiterverarbeitet werden, ist dieser Überzug keine gute Option für Veganer. Für diese stehen andere Varianten zur Verfügung. Allen magensaftresistenten Überzügen gemein sind die Anforderungen, die an sie gestellt werden. Sie müssen in einer Umgebung mit einem pH-Wert eins bis zwei mindestens zwei Stunden ihren Inhalt stabil schützen können. Gleichzeitig müssen Sie in einer Umgebung mit einem pH-Wert von acht innerhalb einer Stunde ihren Inhalt freigegeben haben. Nur so kann garantiert werden, dass der Wirkstoff unter physiologischen Bedingungen zu einem Therapieerfolg führt.

Um diesen Erfolg zu unterstützen, sollte jedem Kunden der Hinweis mitgegeben werden, dass er zwischen der Einnahme der magensaftresistenten Tablette und dem nächsten Essen mindestens 30 Minuten Abstand einhält oder nach dem Essen mindestens zwei Stunden bis zur Einnahme wartet, da eine Mahlzeit den pH-Wert im Magen anhebt. Auf der anderen Seite der Wirkstoffmodifikation stehen schnelllösliche Filmbildner. Sie sollen dafür sorgen, dass Wirkstoffe in Akutfällen besonders schnell freigegeben werden. Einer der eingesetzten Überzüge ist das Polyvinylpyrrolidin, auch Povidon genannt. Dieser Stoff ist stark hygroskopisch. Somit zerfällt und löst sich die Tablette schneller in der physiologischen Umgebung des Magen-Darm-Trakts. Auch das Dragee gilt als schnelllösliche Arzneiform. Die Hülle aus hochviskoser Zuckerlösung fungiert neben ihrer Eigenschaft als Geschmackskorrigens auch als hygroskopische Hülle, die sich schnell auflöst und den Wirkstoff an die Umgebung abgibt.

Eudragit® Als Allrounder in der Filmtablettenindustrie ist die Methacrylsäure in der pharmazeutischen Praxis unverzichtbar geworden. Anionische Copolymere von Methacrylsäure und Methylmethacrylat sind unter dem Markennamen Eudragit® in vielen verschiedenen Filmtabletten als Bestandteil zu finden. Je nachdem wie Methacrylsäure und Methylmethacrylat als Grundstruktur mit weiteren Zusätzen kombiniert werden, sind schnelllösliche, magensaftresistente und sogar unlösliche Überzüge möglich. Ein Beispiel ist Eudragit® E. Durch das Anbringen einer basischen Aminogruppe an die Methacrylsäure quillt der Überzug ab pH-Wert fünf auf.

Gute Voraussetzungen für den Einsatz als Überzug für Lutschtabletten, die in der Mundhöhle einem pH-Wert um die sieben ausgesetzt sind. Durch das Aufquellen verteilt sich der Wirkstoff schneller im Mundraum und kann unter der Voraussetzung, dass er lipophil genug ist, über die Schleimhäute aufgenommen werden. Trotz der fortgeschrittenen Modifikationen der Tabletten im Hintergrund ist immer noch der pharmazeutische Mitarbeiter gefragt, den Kunden überzeugend zu beraten. Der beste Fortschritt ist leider nutzlos, wenn der Patient falsch beraten wird oder die richtige Tablette nicht erkennt.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 07/2020 ab Seite 104.

Manuel Lüke, Apotheker und PTA-Lehrer für Gefahrstoffkunde

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