Blutegel © SergeyLukianov / DigitalVision / Thinkstock
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Parasiten

EIN BISSCHEN EKLIG, ABER HILFREICH

Sie saugen sich fest und beißen zu: Das Bild eines Blutegels am Körper löst bei vielen Menschen Abscheu aus. Doch der Speichel der Tiere enthält medizinisch wirksame Substanzen, die Krankheiten lindern können.

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Der Medizinische Blutegel (Hirudinea medicinalis) gehört zu den Ektoparasiten und befällt sowohl Tiere als auch Menschen. Er kommt hauptsächlich in Europa, Nordafrika und Kleinasien vor, wo er in Süßgewässern lebt. Während andere Arten wie der Pferdeegel kleine Beutetiere ganz verschlingen, ernährt sich der medizinische Blutegel ausschließlich vom Blut seiner Wirte.

Zu Wasser und zu Land Ein medizinischer Blutegel ist ausgewachsen etwa fünf bis fünfzehn Zentimeter lang, schlangenförmig und sehr muskulös, wodurch er ausgezeichnet schwimmen und tauchen kann. Mit Hilfe der beiden Saugnäpfe an den Enden seines Körpers kann er sich jedoch auch an Land gut fortbewegen. Das ist nötig, denn die Egel legen ihre Kokons mit befruchteten Eiern am Ufer ab, wo sie von der Sonne ausgebrütet werden. Obwohl der Egel ein Zwitterwesen ist, braucht es immer zwei Egel zur Fortpflanzung, die sich jeweils gegenseitig befruchten – genau wie ihre Verwandten, die Regenwürmer.

Eine Mahlzeit pro Jahr Die Haut der Egel verfügt über Sensoren, die selbst kleinste Wellen im Wasser wahrnehmen und so dem Tier die Richtung zum Wirt zeigen. Mithilfe der Saugnäpfe saugt er sich dort fest und ritzt dann die Haut ein. Dazu hat er an seinem Kopf drei Kiefer mit rasiermesserscharfen Kalkzähnen. Die Kiefer sind wie ein Y angeordnet, sodass die Bissstelle aussieht wie ein kleiner Dreizack. Während der Parasit Blut saugt, gibt er Speichel in die Wunde ab.

Dieser enthält rund 60 verschiedene Proteine, die die Blutgerinnung hemmen, die Gefäße erweitern und auch den Schmerz stillen, wodurch die Bisse kaum wehtun. Je nach Blutzufuhr und Appetit des Egels kann eine Blutmahlzeit bis zu einer Stunde dauern. Das im Blut enthaltene Wasser scheidet der Egel über seine Haut aus, sodass die Nahrung noch während des Saugvorgangs eingedickt wird. Im Darm konserviert er das Blut dann mithilfe spezieller Darmbakterien, sodass er durchaus ein Jahr ohne weitere Mahlzeit verbringen kann.

Jahrtausende alte Medizin Die besonderen medizinischen Eigenschaften der Blutegel weckten schon vor über 3000 Jahren das Interesse der Babylonier, nachdem sie beobachtet hatten, dass sich Tiere manchmal nur ins Wasser stellten, um sich von Blutegeln befallen zu lassen. Auch in Indien wurden bereits um 800 v. Chr. Blutegel therapeutisch eingesetzt, ebenso wie später im antiken Griechenland, wo sie genutzt wurden, um durch den Blutverlust die vier Körpersäfte wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Diese medizinische Säftelehre galt noch bis in die Neuzeit als maßgeblich, sodass der Einsatz von Blutegeln bis Mitte des 19. Jahrhundert sehr beliebt war.

Geheimnisvoller Speichel 1884 wurde im Blutegelspeichel das Hirudin entdeckt, ein Protein, das die Blutgerinnung hemmt. Aus den Tieren extrahiert, wurde es medizinisch angewendet, unter anderem auch bei den ersten Dialyse-Versuchen mit einer künstlichen Niere. Hirudin wirkt zudem gefäßerweiternd, antithrombotisch und beschleunigt den Lymphfluss, sodass man es in verschiedenen Therapiegebieten einsetzen kann, wie etwa bei Blutgerinnseln und Venenentzündungen.

Ein weiterer Wirkstoff im Speichel der Egel ist das Eglin. Es wirkt schmerzlindernd und entzündungshemmend, was man sich insbesondere bei Arthrose und Arthritis der Fingergelenke zu Nutze macht. Seit den 1970er Jahren werden Blutegeltherapien auch in der Plastischen Chirurgie bei Transplantationen oder rekonstruktiven Eingriffen eingesetzt, um den Heilungsprozess zu verbessern. Im Egelspeichel finden sich viele weitere Substanzen, doch weiß man bei vielen nicht, welchen Effekt sie haben. Daher ist auch die Bandbreite der Beschwerden, bei denen Blutegel eingesetzt werden, sehr groß. Sie reicht von Migräne über Muskelkrämpfe bis hin zu Depressionen.

Kurzer Biss, lange Wirkung Blutegel gelten nach dem Arzneimittelgesetz als Arzneimittel. Zur Therapie werden maximal vier Egel an die schmerzenden Körperstellen angelegt. Haben die Tiere acht bis zehn Milliliter (ml) Blut gesaugt, fallen sie von selbst ab. Durch die hemmende Wirkung des Hirudins auf die Blutgerinnung kann es einen Tag lang noch zu Nachblutungen von bis zu 40 ml kommen. Nach der Therapie ist einige Stunden lang Ruhe angesagt.

Die Wunden werden mit einem sterilen Mullverband abgedeckt, der nach 24 Stunden gewechselt wird. Gewaschen werden sollten die behandelten Stellen erst wieder nach einer Woche. Kontraindiziert ist die Blutegeltherapie bei Blutgerinnungsstörungen sowie bei der Anwendung von Phenprocoumon oder Heparin. Gleiches gilt bei Krankheiten wie Diabetes mellitus, Anämien, Leukämie, arteriellen Gefäßverschlüssen, Magengeschwüren, Tumoren oder fieberhaften Erkrankungen.

Nicht ohne Risiken Auch wenn eine Blutegeltherapie zu den Naturheilverfahren zählt, ist ihre Anwendung nicht ohne Risiko. Die Bissstelle selbst beginnt zu jucken, sobald die leicht betäubende Wirkung der Speichelsubstanzen nachlässt. Gibt man dem Juckreiz nach und kratzt sie auf, kann sich die kleine Wunde infizieren. Vom Egel selbst gehen auch Gefahren aus, denn dadurch, dass er das gesaugte Blut ein Jahr lang flüssig hält, um sich davon zu ernähren, bleiben auch darin enthaltene Krankheitserreger lange am Leben. So hat man hat in Blutegeln unter anderem Toxoplasmoseerreger, aber auch Streptokokken und Chlostridien nachgewiesen.

Theoretisch können Blutegel für alle durch Blut übertragenen Krankheitserreger ein Depot sein, doch gilt das nur für Exemplare, die aus der Natur entnommen wurden. Die heute therapeutisch eingesetzten Tiere werden jedoch extra dafür gezüchtet, nicht zuletzt auch, weil die natürlichen Bestände früher durch die große Nachfrage fast ausgerottet wurden. In der freien Natur findet man medizinische Blutegel heute in Europa nur noch in wenigen Gewässern, hauptsächlich in stehenden, stark verschlammten Teichen mit hoher Wasserpflanzendichte. Der medizinische Blutegel steht in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern unter Naturschutz. Wer ihn ohne CITES-Bewilligung sammelt, macht sich strafbar. Pro Jahr kommen hierzulande etwa 400 000 Blutegel in Therapien zum Einsatz.

Rente statt Tod Die medizinischen Blutegel werden in speziellen Farmen gezüchtet. Nach einem einmaligen Therapieeinsatz dürfen sie aufgrund der Infektionsgefahr nicht nochmals verwendet oder in die Natur entlassen werden, sondern sind durch Alkohol oder Einfrieren zu töten. Um dies zu umgehen, richteten manche Zuchtfarmen auf ihrem Gelände „Rentnerteiche“ für Therapieegel ein.

2006 befand das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte jedoch, dass die Gefahr zu groß sei, dass infiziertes Blut aus den Teichen in die Natur zurückgelangen könnte, und verbot diese Praxis. Viele Behandler und Patienten wollten das nicht hinnehmen und klagten dagegen. Seit 2015 gilt, dass Blutegel nach einer achtmonatigen Quarantäne in Rentnerteichen weiterleben dürfen. Aufgrund des hohen Aufwands gibt es nicht viele dieser Einrichtungen, sie sind jedoch zu begrüßen, zumal ein Blutegel bis zu 30 Jahre alt werden kann.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 06/18 ab Seite 104.

Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist

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