© Die PTA in der Apotheke
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Interview mit Karin Muß

DIE BABYFREUNDLICHE APOTHEKE

Aufgrund des bestehenden Zeitdrucks können Gynäkologen oder Kinderärzte den hohen Informationsbedarf von Schwangeren, Stillenden und Eltern mit Baby kaum decken – wie Apotheken hier punkten können, erzählt Karin Muß.

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VITA
Karin Muß ist seit 1990 Apothekerin. 2001 wurde sie Stillberaterin der La Leche Liga Deutschland, zwei Jahre später absolvierte sie das Examen zur Still- und Laktationsberaterin IBCLC. 2007 gründete sie den Verein „Babyfreundliche Apotheke e.V., der auf ihr Konzept aus dem Jahr 2005 zurückgeht. Dieses wurde 2009 mit dem 3. Preis beim WIPIGPräventionswettbewerb ausgezeichnet. Muß ist ebenfalls als Autorin zum Thema Stillen tätig und ausgebildet in klassischer Homöopathie und Aromatherapie.

Was hat Sie dazu bewogen, den Verein „Babyfreundliche Apotheke“ zu gründen?
Als Apothekerin in einer öffentlichen Apotheke erlebe ich, dass immer mehr Frauen, werdende und junge Mütter die Apotheke aufsuchen und zu den Themen Kinderwunsch, pränatale Versorgung, Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit, Stillhilfsmittel bei Komplikationen usw. Rat suchen. Diese interdisziplinären Sachgebiete sind in den zurückliegenden Jahren in den Ausbildungsplänen der Pharmazeuten und PTA nur sehr dürftig oder nicht berücksichtigt worden.

Mehrfach wurde von Experten während meiner Ausbildung zur La Leche Liga-Stillberaterin und zur Still- und Laktationsberaterin IBCLC Kritik über fachlich inkompetente Beratung von Schwangeren und Stillenden in der Apotheke an mich herangetragen. Bestätigt wurden diese Aussagen durch junge Mütter aus meinen Stillgruppen. Sie berichteten gehäuft über nicht adäquate Beratung in der Apotheke. Mütterberatungsstellen wurden aus Kostengründen vielerorts geschlossen und in den Arztpraxen fehlt oft die Zeit zu einer eingehenden Beratung.

Daher sehen sich viele Apotheken eines größeren Informationsbedarfs dieser Kundengruppe ausgesetzt, bei der sie ihre soziale und ihre Beratungskompetenz unter Beweis stellen könnten, wenn sie über qualifiziertes Fachwissen verfügen würden. Aus dieser Situation heraus entstand die Idee, eine entsprechende Ausbildung für Apothekenpersonal anzubieten und diese mit einem Qualitätsmanagementsystem in der Apotheke als festen Bestandteil zu etablieren und auf Dauer zu gewährleisten.

Was macht eine Apotheke „babyfreundlich“?
Sie zeichnet sich durch ein ganzheitliches Beratungskonzept für Schwangere, Stillende und Eltern mit Baby aus. Im Mittelpunkt des Konzeptes stehen die Förderung des Stillens und der Eltern-Kind-Bindung sowie die Stärkung der elterlichen Kompetenz. Neben den üblichen Apothekenleistungen erhält diese Kundengruppe eine auf ihre Bedürfnisse und die individuelle Situation abgestimmte, fachkundige Beratung. Speziell auf die Apotheke ausgerichtete Beratungsstandards und eingehend geschulte Mitarbeiter bilden dabei die Basis für eine einheitliche und adäquate Beratungsqualität.

Die Beratungsleistungen im speziellen unterliegen den strengen Anforderungen eines Qualitätsmanagementsystems. Zudem wird eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen angestrebt, in deren Aufgabengebiet die Betreuung schwangerer Frauen, stillender Mütter und Eltern mit Baby fällt. Regelmäßige Selbstkontrolle und externe Gutachten bzw. Nachgutachten gewährleisten die Qualität des Konzeptes der „Babyfreundlichen Apotheken“.

Wie können Apotheken Mütter und Väter unterstützen?
Babyfreundliche Apotheken beraten hinsichtlich der Einnahme von Arzneimitteln, um Mutter und Kind vor ungeeigneter Einnahme zu schützen oder um bei Beschwerden gezielt Empfehlungen aussprechen zu können. Auch helfen sie bei Fragestellungen rund um die Ernährung, um die werdende oder die junge stillende Mutter über ihren Nährstoffbedarf, einer entsprechenden vollwertigen Ernährung und über sinnvolle Nahrungsergänzungsmittel zu informieren sowie um den Eltern Empfehlungen zur Ernährung ihres Säuglings im ersten Jahr an die Hand zu geben.

Ein weiterer Punkt ist die Stillberatung, die die Mutter aufklärt über den hohen gesundheitlichen und sozialen Nutzen des Stillens für sie und ihr Baby und um bei Stillproblemen adäquat unterstützen zu können. Schließlich fördern unserer Apotheken die Eltern-Kind-Bindung durch Unterstützung des Stillens bzw. Anleitung zur „richtigen“ Flaschenfütterung und durch Tipps zur Erleichterung des „Baby-Alltags“ zum Beispiel bei Blähungen, Schreibabys oder Einschlafproblemen.

Mit welchen Organisationen arbeitet Ihr Verein zusammen?
Unser Netzwerk umfasst Gynäkologen, Hebammen, Entbindungskliniken, Kinderärzte, freiberufliche Kinderkrankenschwestern, Stillberaterinnen, Osteopathen, Homöopathen und andere in der Eltern- Betreuung Tätige. Zu den beteiligten Organisationen gehört die WHO/Unicef Initiative „Babyfreundliches Krankenhaus” e.V., die Arbeitsgemeinschaft Freier Stillberaterinnen e.V., die La Leche Liga Deutschland e.V., der Bundesverband Deutscher Laktationsberaterinnen e.V., das Ausbildungszentrum für Laktation und Stillen und der Verband Europäischer Laktationsberaterinnen.

Wie sieht die Zusammenarbeit vor Ort aus?
Die Kooperation mit den Netzwerkpartnern hat sich als sehr positiv erwiesen und wird fortgeführt und ausgeweitet. Babyfreundliche Apotheken werden zum Beispiel von Kliniken mit Milchpumpen über einen Lieferservice versorgt. Kooperierende Ärzte fühlen sich unterstützt durch die erweiterte Beratung der Eltern in der Babyfreundlichen Apotheke. Hebammen und Stillberaterinnen begrüßen sowohl das Produktsortiment, die kompetente Beratung als auch den Milchpumpen- und Arzneimittel-Lieferservice für ihre Mütter.

Vortragsangebote zu diversen Themen durch die Apotheken werden zahlreich genutzt. Familienbildungszentren, Hebammenpraxen, Volkhochschulen nehmen Kurs- und Fortbildungsangebote zu diversen Themen für Eltern dankbar an. Babyfreundliche Apotheken müssen dabei aber auch ihre Beratungsgrenzen erkennen und ihre Kundinnen entsprechend weiterleiten an ihre Netzwerkpartner. Umgekehrt empfehlen diese ihre Patientinnen an die kompetente Babyfreundliche Apotheke. Für beide Seiten entsteht eine Win-Win-Situation. Krankenkassen und Kinderwunschzentren werden künftig als Kooperationspartner mit eingebunden.

KURZE GESCHICHTE DES VEREINS:
Die Vorarbeiten und ersten Schulungen haben im Herbst 2005 begonnen. 2006 wurden ein QMS-Handbuch und entsprechende Qualifizierungskriterien erarbeitet.
2007 wurde der Verein „Babyfreundliche Apotheke“ e.V. gegründet, bestehend aus sechs Apotheken und sechs natürlichen Personen. Im Januar 2008 erhielten die ersten beiden Apotheken das Qualitätssiegel „Babyfreundliche Apotheke“. 2009 belegte das Projekt den 3. Platz beim WIPIG-Präventionswettbewerb.

Gibt es das Konzept auch in anderen Ländern?
Bisher noch nicht, wir denken aber darüber nach. Anfragen erreichen uns besondere aus Österreich.

Wie lange dauert eine Zertifizierung?
Nur Apotheken mit positivem Gutachten erhalten nach der Zertifizierung die Auszeichnung „Babyfreundliche Apotheke“ für drei Jahre. Die Rezertifizierung gewährleistet eine weiterhin qualitativ hochwertige und adäquate Beratung. Es gibt Apotheken, die fünf Wochen nach der Grundlagenschulung zertifiziert haben . Es gibt auch Apotheken, die seit drei Jahren dabei sind und immer noch nicht „babyfreundlich“ sind – also individuell unterschiedlich.

Uns liegt natürlich an einer raschen Zertifizierung, da wir möglichst schnell zahlreiche babyfreundliche Apotheken flächendeckend in Deutschland vertreten haben möchten. Eine Babyzeitschrift hat uns kürzlich in deren Heft vor gestellt. Wir erhielten dadurch direkt im Vereinsbüro einen Ansturm an Anfragen von jungen Müttern, warum es bei ihnen in der Nähe keine zer tifizierte Apotheke gäbe. Auch zu Arzneimitteln kamen Fragen bei uns im Büro an. Daran erkennen wir auch, wie groß der Bedarf nach mehr Kompetenz von Seiten der Mütter ist.

Wie viele Apotheken sind aktuell zertifiziert?
Anfang des Jahres waren es 45. Insgesamt haben wir mittlerweile 121 Mitglieder, zu Beginn waren es 13.

Bieten Sie auch unabhängig von der Zertifizierung Fortbildungen an?
Ja. Alle Seminare, die ich anbiete, können von interessierten Kollegen besucht werden, unabhängig, ob sie zertifizieren wollen oder nicht. Die Seminare werden bei Kammern oder Landesapothekerverbänden für alle Kolleginnen und Kollegen (PTA, Apotheker und PKA) angeboten. Wir freuen uns auch immer wieder über männliche Teilnehmer! Für Kundinnen ist das ein besonders positiver Überraschungseffekt, wenn sie von einem Mann auf dem Gebiet top beraten werden. Würden Sie das erwarten? Nein. Also, jeder Kollege ist herzlich willkommen.

Wo können sich interessierte Apotheken über Ihr Angebot informieren?
Auf unserer Homepage www.babyfreundliche-apotheke.de und in unserem Vereinsbüro.

DIE 12 STANDARDS DES VEREINS
Für eine kompetente Beratung von Schwangeren, Stillenden und Eltern mit Baby:

Standard 1: Schulung
Das zuständige Team in der Apotheke wird in Theorie und Praxis so geschult, dass es die Standards zur Beratung von Schwangeren, Stillenden und Eltern mit Baby in der Apotheke umsetzen kann.

Standard 2: Transparenz
In der Apotheke liegen schriftliche Standards zur Beratung von Schwangeren, Stillenden und Eltern mit Baby vor, die das zuständige Mitarbeiterteam in regelmäßigen Abständen durcharbeitet.

Standard 3: Medikation
Ist in der Schwangerschaft oder Stillzeit eine Arzneimitteleinnahme erforderlich, erhält die Kundin in der Apotheke eine eingehende Beratung. Eltern werden bei notwendiger Medikation für ihren Säugling detailliert informiert.

Standard 4: Stillinformationen
Die Apotheke bietet schwangeren Kundinnen an, sie über die Vorteile und die Praxis des Stillens zu informieren.

Standard 5: Stillhilfsmittel
Bei der Abgabe von Stillhilfsmitteln werden Schwangere und Stillende vom zuständigen Apothekenteam genau aufgeklärt über den sinnvollen Einsatz der Hilfsmittel und über ihre Auswirkungen auf das Stillen.

Standard 6: Ernährung
Schwangere und stillende Frauen erhalten in der Apotheke Informationen über gesunde und vollwertige Ernährung.

Standard 7: Künstliche Säuglingsnahrung
Das zuständige Apothekenteam berät Eltern objektiv bei notwendigem Einsatz von künstlicher Säuglingsnahrung.

Standard 8: Beikost
Müttern mit Fragen zum Thema „Einführung von Beikost“ bietet das zuständige Apothekenteam ausführliche Informationen an.

Standard 9: Stillen und Berufstätigkeit
Stillende Mütter, die wieder ins Berufsleben zurückkehren wollen, werden in der Apotheke beraten, wie sich Stillen mit der Berufstätigkeit vereinbaren lässt.

Standard 10: Unterstützung
Die Apotheke bietet Eltern bei Bedarf kompetente und einfühlsame Unterstützung im Umgang mit ihrem Baby an.

Standard 11: Milchpumpen- und Babywaagen-Verleih
Das zuständige Apothekenteam berät Mütter, die eine Milchpumpe oder Babywaage ausleihen möchten, ausführlich.

Standard 12: Netzwerkaufbau
Die Apotheke baut ein flächendeckendes, gut funktionierendesNetzwerk, sowie Unterstützungsangebote für Schwangere, Stillende und Eltern mit Baby auf.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 02/11 ab Seite 84.

Das Interview führte Dr. Petra Kreuter

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