Beweismittelsicherung © Mihajlo Maricic / iStock / Getty Images
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Berühmte Giftmorde

DER FALL HAWLEY CRIPPEN

Man beschrieb ihn als auffallend liebenswürdig: Dennoch soll der Arzt Hawley Crippen 1910 seine Frau Cora ermordet und zerstückelt haben. Der Kriminalfall gilt als Beginn der modernen Rechtsmedizin.

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Wem der Name „Dr. Crippen“ bekannt vorkommt, liegt nicht falsch: Allein drei Filme und zahlreiche Bücher beschäftigen sich mit dem besonders grausamen Mord, der Anfang des 20. Jahrhunderts in Großbritannien hohe Wellen schlug, bei dessen Aufklärung sich Kriminalkommissar und Verbrecher ein spektakuläres Rennen lieferten, ein weltberühmter Toxikologe zur Hochform auflief und selbst nach Verurteilung des Angeklagten Rätsel offen blieben – doch der Reihe nach.

Ein illustres Paar Der 1862 in den USA geborene Hawley Howard Crippen absolvierte ein Medizinstudium, erhielt die Approbation 1885 und zog mit seiner zweiten Frau Kunigunde Mackamotzki, genannt Cora, nach Großbritannien. Cora sah sich als verhinderte Künstlerin, die man nur noch nicht entdeckt hat. Sie legte sich einen Künstlernamen zu: Belle Elmore. Ihr Ehemann bezahlte ihr geduldig Gesangs- und Tanzkurse sowie Theater- und Varietéagenten, aber mangels Talent erreichte seine Frau nie den von ihr angestrebten großen Durchbruch.

Sie flüchtete sich in Alkohol und wechselnde Liebhaber. Auch ihr Gatte, der sich einen zu der Zeit modischen großen Schnurrbart hatte wachsen lassen, ließ in dieser Beziehung nichts anbrennen. Dennoch führten sie nach außen ein ganz normales gesellschaftliches Leben. Am frühen Morgen des 1. Februar 1910 verabschiedeten sie wieder einmal Gäste, das Ehepaar Martinetti. Man winkte sich hinterher. Es war das letzte Mal, dass Cora von anderen lebend gesehen wurde.

Die Geliebte zieht ein Infolge eines „familiären Notfalles“ sei seine Frau Hals über Kopf in die USA abgereist, erzählte Crippen in den nächsten Tagen Freunden, die nach ihr fragten. Irritierend war allerdings, dass eine Woche später seine Geliebte bei ihm einzog: Ethel le Neve begann schon bald, Kleider und Schmuck der Ehefrau zu tragen. Beide zeigten sich ungeniert miteinander als Paar. Crippen erzählte, dass seine Frau Cora leider in Amerika erkrankt und verstorben sei. Doch das nahm ihm niemand ab. Wenig später stand die Polizei vor der Tür. Crippen gab auf Nachfragen sofort zu, dass seine Aussagen über Cora nicht stimmen. Sie hätte ihn mit einem anderen Mann über Nacht verlassen, und ihm wäre es peinlich gewesen, das zuzugeben. Chief Inspector Walter Dew von Scotland Yard hatte dafür Verständnis und zog mit seiner Mannschaft wieder ab.

Großfahndung Als der Kriminalbeamte wenig später zurückkehrte, um noch einige Details zu erfragen, war der Vogel ausgeflogen: Crippen und Ethel le Neve waren abgereist. Ihr Ziel war Kanada; zu der Zeit eine aufwändige Seereise. Das war Dews Glück: Denn die Polizei fand nach intensiver Suche im Keller eine zerstückelte menschliche Leiche samt einem blutigen Pyjamaoberteil. Dew gab eine Großfahndung heraus; Steckbriefe wurden gedruckt, Zeitungen veröffentlichten Bilder und Aufrufe, jeden Verdächtigen zu melden. Doch Crippen hatte sich seinen markanten Schnurrbart abrasiert, gab sich als Mister John Robinson aus. Und Ethel, die sich Männerkleidung übergeworfen hatte, ging als sein Sohn, John Robinson Jr.. Beide hatten eine Schiffsfahrkarte für die SS Monrose, einem Atlantikdampfer.

Crippens Pech, dass dieses neue Schiff über einen neuartigen Funktelegrafen verfügte. Captain Henry Kendall, ließ Inspector Dew eine Meldung zukommen: „Haben den starken Verdacht, dass der Londoner Kellermörder Crippen und Komplizin an Bord sind.“ Und nun begann die Verfolgungsjagd, die viele Filmschaffende und Romanschriftsteller bis heute inspiriert: Der Inspector schiffte sich auf der etwas schnelleren „SS Laurentic“ ein und jagte der langsameren Monrose hinterher – sofern man mit dreizehn Knoten von Jagen sprechen kann. Kurz vor der kanadischen Küste ging er, als Lotse verkleidet, an Bord, und stellte sich dem verdutzten Crippen vor. „Gott sei Dank ist es nun vorbei“, stöhnte der, als die Handschellen klickten.

Forensische Pharmakologie entsteht Der Beschuldigte war jetzt zwar gefasst, doch galt es, ihm die Tat auch nachzuweisen, denn er stritt alles ab. Viele Beweisstücke waren es nicht, die übrig geblieben waren: ein paar Hautfetzen, Haare und Teile von Organen. Man zog den bekannten Londoner Rechtsmediziner Sir Bernard Spilsbury hinzu. Der entdeckte zwar eine Narbe am Bauch des Torsos, die von einer vergangenen Operation Coras herrühren könnten, aber – genauso wichtig – auch Spuren von Hyoscin (Scopolamin): ein Alkaloid, das sich Crippen kurz vorher in einer Apotheke besorgt hatte.

Durch seine Analyse mittels Kristallisation und Schmelzpunktbestimmung legte Spilsbury die Grundlagen für eine moderne forensische Pharmakologie. Der so freundlich und liebenswürdig auftretende Crippen galt als überführt und wurde zum Tod durch den Strang verurteilt. Mysteriös ist der Mord bis heute. 2007 nahm ein Forscherteam der Universität Michigan von den erhaltenen Beweisstücken DNA-Proben und verglich sie mit noch lebenden Verwandten Cora Crippens über die mitochondriale DNA. Es konnte keine Übereinstimmung festgestellt werden. Mehr noch: Die Erbsubstanz konnte gar nicht von der Ehefrau Crippens stammen – sie gehörte nämlich einem Mann. Hat Dr. Crippen seine Frau vielleicht gar nicht umgebracht?

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 12/19 ab Seite 110.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

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