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Tinnitus

DAS PFEIFEN IM OHR

Zehn bis zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung haben einen chronischen Tinnitus. In ihren Ohren rauscht, klopft, pfeift, zischt oder brummt es dauerhaft. Für einige ist das eine psychische Zerreißprobe.

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Fast jeder hat wohl schon mal ein Pfeifen oder Klingeln in den Ohren gehabt. Normalerweise achtet man nicht darauf und nach einigen Sekunden ist es wieder verschwunden. Wenn es aber über längere Zeit bestehen bleibt, sprechen Experten von einem Tinnitus. Dabei handelt es sich um eine psychoakustische Störung, das heißt, das Geräusch ist nur für die Betroffenen wahrnehmbar, es hat keine äußere akustische Quelle. In vielen Fällen verschwindet die Hörstörung innerhalb eines halben Jahres von selbst wieder. Danach wird der Tinnitus allerdings chronisch und je länger er anhält, desto geringer ist die Chance, dass er sich wieder vollständig zurückbildet.

Wo das Ohrensausen entsteht Lange Zeit dachte man, der Tinnitus würde durch eine Störung im Innenohr ausgelöst. Diese Theorie wurde jedoch verworfen, als man feststellte, dass die Geräusche auch dann nicht verschwanden, als man den Betroffenen den Hörnerv durchtrennte. Ganz sind die Ursachen für einen Tinnitus noch nicht geklärt, jedoch geht man davon aus, dass er im Gehirn entsteht. Tatsächlich ist die Hörrinde, also der Teil des Gehirns, der für die bewusste Wahrnehmung von Schall zuständig ist, bei Tinnituspatienten selbst dann aktiv, wenn im Ohr keinerlei Aktivität verzeichnet wird.

Warnsignal des KörpersEin Tinnitus ist keine eigenständige Krankheit, sondern ein Symptom dafür, dass mit Körper oder Psyche etwas nicht stimmt. Das kann so etwas Simples wie ein Ohrenschmalzpropfen sein, aber auch etwas so Ernsthaftes wie ein Tumor. Offensichtlich versucht das Gehirn, die objektiv bestehende Einschränkung des Hörens zu kompensieren, indem es die Hörleistung quasi „hochregelt” – das Störgeräusch ist also nichts anderes als eine übertriebene Verstärkung von Sinnesimpulsen. Die Ursachen für den Tinnitus sind extrem vielfältig, sodass die Diagnose häufig langwierig ist und immer interdisziplinär durchgeführt werden sollte.

Hörstürze oder Knalltraumen können einen Tinnitus genau so auslösen wie virale oder bakterielle Infektionen, psychische Störungen, Zahn-Kiefer-Probleme, Mittelohrentzündungen oder Drehschwindelkrankheiten wie Morbus Menière. Hält das Geräusch länger als 24 Stunden an, sollte man den HNO-Arzt zur Abklärung aufsuchen. Zeigen erste Untersuchungen und Tests, dass ein Hörsturz die Ursache ist, muss dieser schnellstmöglich therapiert werden. Einige Ärzte verschreiben auch Ginkgopräparate, allerdings haben diese Studien zufolge lediglich Placebowirkung. Bessert sich der Tinnitus durch die Erstversorgung nicht, wird weiter gesucht. Die Diagnostik kann dann von Zahn-Kiefer- und HWS-Untersuchungen über Blutmessungen und einer Hirnstammaudiometrie bis hin zur Psychotherapie reichen.

Gute Lebensqualität trotz Tinnitus Sehr häufig wird die Ursache eines chronischen Tinnitus nie gefunden oder aber er hat sich bereits „verselbständigt”, obwohl die Ursache abgestellt wurde. Diese Patienten müssen lernen, mit ihrem Ohrgeräusch zu leben. Die meisten schaffen es, das Pfeifen, Klingeln oder Brummen locker zu sehen und sich dadurch in ihrer Lebensqualität nicht einschränken zu lassen.

Für andere jedoch bestimmt der Tinnitus das Leben. Sie ziehen sich immer mehr zurück, suchen die Stille, die nie kommt und werden im schlimmsten Fall arbeitsunfähig und depressiv. Diese Menschen stehen wegen ihrer Hörstörung unter permanentem Stress – ein Teufelskreis, da Stress und psychische Belastung den Tinnitus erwiesenermaßen verstärken. Ihn kann man nur durchbrechen, wenn man versucht, mit ihm gelassen umzugehen.

Dabei mag das Beispiel des Heller-Bergman-Experiments helfen. Diese beiden HNO-Ärzte setzten Menschen in einen schalltoten Raum und baten sie, aufzuschreiben, was sie hörten. Erstaunlicherweise berichteten 97 Prozent der Probanden bereits nach zwei Minuten, dass sie Geräusche wahrnahmen – was in dieser Umgebung jedoch objektiv unmöglich war. Sie hatten vorübergehend einen Tinnitus entwickelt. Wenn man diesen so offensichtlich „herausfordern” kann, kann man mit mentaler Stärke auch lernen, damit umzugehen.

Ähnlich wie in der Schmerztherapie wird daher beim Tinnitus der Patient zum „Manager” seiner psychoakustischen Störung. Entspannungstechniken, positive Gedankenmodelle und speziellen Geräuschtherapien sollen den Betroffenen die innere Ruhe wiedergeben, den Tinnitus aus ihrem Bewusstsein verdrängen und so die Lebensqualität wieder verbessern.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 09/12 ab Seite 50.

Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist

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