© Heng Kong Chen / 123rf.com

Blutegeltherapie

ALTES WISSEN NEU ENTDECKT

Jahrzehntelang war sie verpönt, jetzt erlebt sie ein Comeback: Die Therapie mit medizinischen Blutegeln wird zur schonenden Behandlung von Beschwerden wieder häufiger eingesetzt.

Seite 1/1 4 Minuten

Seite 1/1 4 Minuten

Die Blutegeltherapie ist eine der ältesten medizinischen Behandlungen, die wir kennen. So gibt es Funde, die darauf hinweisen, dass Menschen bereits in der Steinzeit mit Blutegeln behandelt wurden. In fast allen Hochkulturen zählte sie zur gängigen Medizin. Durch den griechischen Arzt Themison von Laodikeia wurde die Blutegeltherapie im 1. Jahrhundert v. Chr. auch in Europa zum festen Bestandteil der Volksmedizin.

Anfang des 19. Jahrhunderts kam es allerdings zu einem regelrechten „Blutegelboom”. Sie wurden für jedes Zipperlein verwendet, teilweise saugten 100 Tiere an einem Patienten, viele verloren so viel Blut, dass die Therapie tödlich endete. Als man den Zusammenhang zwischen Bakterien und Krankheiten entdeckte und Hygiene lebenswichtig wurde, gerieten die „schmutzigen” Blutegel vollends in Verruf.

Doch Anfang des 20. Jahrhunderts beobachtete man, dass die Therapie gute Erfolge bei Thrombose erzielte. In den 1980er-Jahren erschloss sich für die Blutegelbehandlung schließlich ein ganz neues Feld: die plastische Chirurgie. Bei Hauttransplantationen oder Transplantationen der äußeren Extremitäten halfen Blutegel, die Durchblutung zu fördern und so den venösen Stau zu verhindern, der eine Abstoßungsreaktion zur Folge haben kann.

Auch bei anderen Krankheiten, bei denen sie traditionell immer schon angewendet wurden, kam sie jetzt wieder häufiger zum Einsatz. Die Therapie mit den kleinen Blutsaugern kann eine schonende, nebenwirkungsfreie und – bei fachgerechter Anwendung – ungefährliche Alternative zu Medikamenten sein.

Tierischer Aderlass Bei der Therapie werden sechs bis zehn Egel auf die Haut des Patienten gesetzt. Dort beißen sie sich fest und saugen etwa 45 bis 60 Minuten Blut. Dabei geben sie die heilsamen Stoffe in ihrem Speichel an den menschlichen Organismus ab. Nach der Blutmahlzeit fallen die Egel von selbst ab, danach bluten die stecknadelgroßen Wunden noch eine Weile nach, was den Heilungsprozess fördert und die Wirkung der Behandlung unterstützt. Meistens reicht eine Therapiesitzung aus, sie kann jedoch nach einigen Monaten wiederholt werden.

Dreifache Wirkung Der Erfolg der Therapie lässt sich durch drei Faktoren erklären:

  • Der Bissreiz Ein kurzer, aber nicht besonders unangenehmer, diffuser Schmerzreiz. Dieser regt die körpereigene Schmerzregulation an und könnte so eine fehlerhafte Weiterleitung von Schmerzsignalen kontrollieren. Das würde erklären, warum eine Blutegelbehandlung bei vielen Schmerzpatienten Wirkung zeigt.
  • Der Aderlass Bei einer Therapie mit zehn Blutegeln verliert der Patient im Schnitt 100 Milliliter Blut und Lymphflüssigkeit, in der Nachblutungsphase noch einmal etwa vierhundert Milliliter. Dieser kleine „Aderlass” gilt in der Naturheilkunde als ausleitende Maßnahme mit einer reinigenden Wirkung. Er soll die Neubildung von Blut und Lymphflüssigkeit anregen und dadurch helfen, Schadstoffe abzutransportieren.
  • Der Speichel Beim Biss sondert der Blutegel Speichel in die Wunde ab, dessen Inhaltsstoffe unter anderem blutbildend, entzündungshemmend, antibiotisch, schmerzlindernd, entwässernd und gefäßerweiternd wirken.

Wo kann eine Therapie helfen? Da die Wirkstoffe im Blutegelspeichel in die Blutgerinnungskaskade eingreifen, ist die Therapie bei allen Krankheiten indiziert, die sich auf eine Durchblutungsstörung zurückführen lassen, zum Beispiel sogar bei Tinnitus. Traditionell werden die Tiere bei Arthrosen, Thrombosen und Krampfadern eingesetzt – und zwar sowohl bei akuten als auch chronischen Prozessen.

DIE WICHTIGSTEN INHALTSSTOFFE DES SPEICHELS
Hirudin Wirkt blutgerinnungshemmend, regt die Fließgeschwindigkeit der Lymphe an, antibiotisch und lokal entspannend.
Calin Wirkt ebenfalls blutgerinnungshemmend und sorgt dafür, dass die etwa zwölfstündige Nachblutungsphase sanft verläuft.
Eglin Wirkt antiphlogistisch.
Hyaluronidase kann Hyaluronsäure im Bindegewebe abbauen, sodass die anderen Wirkstoffe tiefer ins Gewebe eindringen können.

Darüber hinaus kann die Therapie Schmerzpatienten helfen – dort findet sie bei Kopfschmerz, Migräne oder Bandscheibenbeschwerden Anwendung. Die Einsatzmöglichkeiten sind vielfältig und unterscheiden sich von Heilpraktiker zu Heilpraktiker. In klinischen Studien wurde die Wirksamkeit bisher jedoch nur bei der Kniegelenksarthrose nachgewiesen.

Nicht für alle harmlos Kontraindiziert ist eine Blutegeltherapie bei immunsupprimierten Patienten, Menschen mit Anämie oder Hämophilie sowie Nieren- und Leberkranken. Nehmen Ihre Kunden gerinnungshemmende Cumarinmedikamente ein, sollten Sie ihnen von einer Blutegelbehandlung ebenfalls abraten. Auch die Anwendung von Salben mit Antikoagulanzien sollte nicht gleichzeitig mit einer Blutegeltherapie erfolgen. Die Tiere dürfen nicht auf krankhaft veränderte Hautareale oder solche mit arteriellen Durchblutungsstörungen aufgesetzt werden.

Die Behandlung erhöht zudem die Toxizität von Quecksilber, was eine gleichzeitige Anwendung von quecksilberhaltigen Antiseptika wie zum Beispiel Merbromin oder Konservierungsmitteln wie Thiomersal verbietet. Eine Wechselwirkung mit Amalgam besteht hingegen nicht. Acetylsalicylsäure kann die Nachblutungszeit verlängern.

Manchmal treten auch leichte Hautrötungen oder Hämatome an der Bissstelle sowie Kreislaufstörungen auf. Lokale Allergiereaktionen sind recht häufig, systemische allergische Reaktionen bis hin zum Schock jedoch extrem selten. Wer zu krankhafter Veränderung von Narbengewebe neigt, kann sichtbare Narben davontragen, normalerweise heilen die Wunden jedoch vollständig aus.

Sehr geringes Infektionsrisiko Im Darm der Tiere finden sich potenzielle Krankheitserreger wie Streptokokken, Clostridien oder Einzellerparasiten wie der Toxoplasmose-Erreger. Auch HI-Viren wurden schon nachgewiesen. Bisher wurden jedoch nur sehr seltene Fälle leichter lokaler Infektionen bekannt, die mit Antibiotika sofort therapiert werden konnten. Die Blutegel werden nur einmal verwendet, nach der Behandlung werden sie getötet und entsorgt – auch das senkt das Infektionsrisiko für Patienten.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 02/13 ab Seite 114.

Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist

×