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Bücher, von denen man spricht

ALK

Nach der Lektüre dieses Buches mag man das Glas Sekt in der Hand mit anderen Augen betrachten. Aber keine Sorge: „Alk“ ist nicht nur für Alkoholiker geeignet, sondern auch vorzüglich für die Allgemeinbildung.

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Mit einer Mischung von schwarzem Humor, Satire und medizinischem Fachwissen darf wohl nur ein echter Alkoholkranker schreiben. Der sich durch Jahre der Sucht, des Entzuges, des Wieder-Aufrappelns hindurchgearbeitet hat. Das Buch, das Simon Borowiak verfasst hat, nennt sich „fast ein medizinisches Fachbuch“; es produziert Lachsalven beim Lesen sowie tiefes Mitgefühl und ebensolche Einsichten; dass es eben Menschen gibt, die durch die Hölle gehen und trotzdem den Mut nicht verlieren, sondern weise werden.

Kultbuch nicht nur für Alkis Der Verlag nennt es „Kultbuch“, das nun aktuell überarbeitet wurde, es erschien schon einmal 2005. Es ist für all jene gedacht, die schon mal gern einen heben – und für alle, die schon einen zu viel gehoben haben. „Damit wir uns richtig verstehen“, sagt der Autor im Vorwort: „Jeder Mensch sollte das verbriefte Recht auf Ekstase, Entrückung und Verzückung haben. Aber er sollte auch über die möglichen Nebenwirkungen informiert sein.“ Auf der Suche nach dem richtigen Ratgeber las der ehemalige „Titanic“-Redakteur damals auch andere Werke: „Die Fachbücher waren mir zu fachlich, die Bücher von Betroffenen zu betroffen und die von Nichtbetroffenen zu anmaßend.“ So beschloss er also „anmaßend, das ultimative Alk-Buch zu schreiben.“

Es könnte ihm gelungen sein, und es wäre vielleicht mal an der Zeit, es als Pflichtlektüre an Schulen vorzuschlagen. Nur das Genre macht Schwierigkeiten: Ist das es nun ein Fachbuch? Oder ein Roman? Oder ein Tatsachenbericht? Egal, so vergnüglich hat jedenfalls kaum jemand den Zustand eines Rausches beschrieben: „Den muss man sich wie eine gewaltige Keilerei unter Neurotransmittern vorstellen, quasi wie eine Art neuronale Wirtshausschlägerei.“ Unter der Kapitelüberschrift „Von Schwips bis Tod“ beschreibt der Autor die verschiedenen Stadien der biochemischen Eroberung des Gehirns durch Ethanol; er berichtet wahrheitsgetreu von Dosis und Alkoholabbau, was von der Leber noch zu bewältigen ist – und was eben nicht: „20 Gramm reinen Alkohol (0,2 Liter Wein oder einen halben Liter Bier) kann der Frauenkörper pro Tag wegstecken, Männer dürfen das Doppelte.“ Und: „Trainierte Amateure stecken selbstverständlich mehr weg als Hobby-​Trinker“.

Ab wann es kritisch wird Tja, und dann kommt sie die große Frage: Ab wann ist man Alkoholiker? Hat die Weltgesundheitsorganisation mit ihren Kriterien recht oder doch eher die Definition nach Jellinek? Borowiak kennt sie jedenfalls alle, die Listen mit den Ja-und-Nein-​Fragen zum eigenen Konsum, leider kam er selbst immer auf die höchste Punktzahl. Er beschreibt genau, was der Alkohol bei Dauernutzung mit unseren inneren Organen macht, und ehrlich, so genau hat man das vorher gar nicht gewusst. Die Leber, die Borowiak ein „heroisches Organ“ und „den inneren Wertstoffhof“ nennt - manchmal arbeitet sie sich halt zu Tode (und meldet noch nicht einmal Schmerzen), was eine Leberzirrhose zur Folge hat.

Der Pfortaderhochdruck, der zu den berüchtigten Ösophagus-​Varizen führt („dann Hallelujah und literweises Erbrechen von Blut“). Die Bauchwassersucht, die hepatische Enzephalopathie. Auch der Bauchspeicheldrüse widmet Borowiak ein liebevolles Kapitel: „Für eine alkoholbedingte Pankreatitis muss man lange arbeiten beziehungsweise trinken. Ab 20 Gramm täglich steigt das Risiko, ab 80 Gramm täglich haben Männer nach 17 Jahren, Frauen nach 10 Jahren die chronische Pankreatitis so gut wie in der Tasche.“ Und er schlägt vor, das Organ „Prinzen-Drüse“ zu nennen, denn der berühmteste Bauchspeicheldrüsen-Patient sei nun mal „Prinz Ernst August von H. – das würde das stiefmütterlich behandelte Pankreas endlich ins Volksbewusstsein heben wie z. B. den Franz-Josef-Strauß-Flughafen oder den Rhein-Main-Donau-Kanal“.

Auch ein Ratgeber Nein, es scheint nur so: „Alk“ ist nicht nur lustig – sondern auch richtig praktisch. Für eine PTA, die gern mit Hilfsmittelrezepten kniffelt, ist der Weg zu einer Therapie mit sämtlichen Ansprechpartnern detailliert beschrieben. Und für jemanden, der das gern wüsste, aber sich nicht zu fragen traut, ist das Kapitel „Angebote im Überblick“ bestimmt Gold wert. Der leidvolle Schlingerkurs des Autors, der selbst beim Schreiben dieses Buches einen Alkohol-Rückfall erlitt und noch einmal in Therapie musste („Bis ich mich wieder an die Maschine setzen konnte, hatte ich mal eben fünf Wochen meines Lebens verbrannt“) endete jedoch irgendwann. Man stellt es ziemlich am Schluss fest, „Chemie, Chemie“ heißt das Unterkapitel. Borowiak listet die Wirkmechanismen verschiedener Pharmaka auf: Baclofen, Acamprosat, Naltrexon – und Antabus®. Letzteres ist sein persönliches Heilmittel, er nennt es „meine chemische Gouvernante“.

Antabus® mit seinem Wirkstoff Dislufiram, seit 65 Jahren auf den Markt, aber nur noch im Ausland erhältlich, „tätigt einen kleinen Handgriff in der Leber: Es knockt das Enzym Alkoholdehydrogenase aus.“ Was es heißt, wenn der Körper auf dem zugeführten Alkohol sitzen bleibt, beschreibt seine begleitende Ärztin so: „Nehmen Sie Ihren schwersten Entzug und den hoch Hundert“. Da die Vergiftungserscheinungen bei Ethanol-Zufuhr so massiv sein können, muss Antabus® genau dosiert werden und darf nur unter ärztlicher Aufsicht eingenommen werden. In Deutschland werden die Patienten schriftlich und mündlich genau aufgeklärt und müssen unterschreiben, dass sie es verstanden haben. Frankreich und die Schweiz gehen da drastischere Wege: Da wird nach der ersten Einnahme ein „Trinkversuch“ mit 0,5 Gramm Alkohol durchgeführt. Kleiner Trost: Der Arzt bleibt beim Patienten stehen und hat für Notfälle ein Reanimationsbesteck dabei.

Das „kontrollierte Trinken“ Ein paar besonders beeindruckende Seiten hat Borowiak dem Thema „kontrolliertes Trinken“ gewidmet. Dieser Illusion geben sich alkoholkranke Menschen ganz gern hin, wenn ihnen eine längere Phase der Abstinenz gelungen ist. „Kontrolliert trinken können Nicht-Abhängige, Menschen mit Normalo-Stoffwechsel, jungfräulichem Chemiehaushalt und Rudolf Scharping. Der Zug abgefahren ist bei allen, deren Gewässer irgendwann umgekippt sind.“ Und so schreibt der Autor die Antwort auf die Frage „Ist kontrolliertes Trinken möglich?“ ganz groß auf die ansonsten leere Folgeseite: „NEIN!“ Borowiak rechnet durch: Rund 10 Millionen Deutsche pflegen einen problematischen Umgang mit Alkohol. Und, nein, man muss dazu nicht unfrisiert auf der Parkbank liegen. Das „Kultbuch für Genusstrinker, Profi-Trinker, Ärzte, Therapeuten, Winzer, Angehörige, Minderjährige, Getränkelieferanten und Hirnforscher“ (laut Verlag) öffnet die Augen – und das ist gut so.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 03/19 ab Seite 110.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

Simon Borowiak: „Alk“. Penguin Verlag, ISBN 978-3-328-10385-1, Broschur, 256 Seiten, 12,00 Euro.

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