Tabletten und ein Ultraschallbild.© Sofiia Petrova / iStock / Getty Images Plus
In der Schwangerschaft musss ein besonderes Augenmerk auf die Einnahme von Wirkstoffen gelegt werden.

Repetitorium – Teil 1

ARZNEIMITTEL IN DER SCHWANGERSCHAFT

Während der Schwangerschaft besteht ein hoher Beratungsbedarf. Eine Arzneimitteltherapie muss in dieser besonderen Zeit mit großer Zurückhaltung erfolgen. Doch wenn der Einsatz notwendig ist: Welche Arzneimittel sind dann geeignet?

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Die Mehrzahl aller Frauen nimmt zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrer Schwangerschaft Arzneimittel ein. Seltener lösen Schwangere Rezepte ein, auf denen der Arzt verschreibungspflichtige Präparate zur Behandlung chronischer Grunderkrankungen verordnet hat.

Meistens werden Präparate im Rahmen der Selbstmedikation erworben, vornehmlich um akute schwangerschaftstypische Beschwerden zu lindern. Das Apothekenteam im HV muss sehr sorgfältig ausloten , ob und mit welchen Wirkstoffen eine Arzneimitteltherapie möglich ist.

Potenzielle Fruchtschädigung

Fast alle Substanzen können über die Plazenta von der Mutter auf das Kind übergehen und in den Blutkreislauf des Ungeborenen gelangen. Damit stellt eine Arzneimitteleinnahme prinzipiell immer ein Risiko für das Kind dar. 

Die größte Gefahr ist die fruchtschädigende Wirkung (Teratogenität) eines Arzneistoffes, wobei die Auswirkungen meist irreversibel und vielfältig sind. Sie reichen von leichteren Schäden über Fehl- und Missbildungen unterschiedlichen Grades bis hin zum Absterben des Ungeborenen. 

Bei der Ausbildung teratogener Schäden spielen folgende Faktoren eine Rolle:

  • die Art der eingenommenen Substanz;
  • die Dosis,
  • die Einnahmedauer,
  • die Empfindlichkeit des Embryos gegenüber toxischen Einflüssen aufgrund seines Genotyps (Erbeigenschaften),
  • die Anzahl der exogenen Einflüsse
  • und vor allem der Einnahmezeitpunkt, also in welchem Schwangerschaftstrimester die Frau sich befindet.

Das Ungeborene reagiert je nach Entwicklungsstadium unterschiedlich empfindlich auf exogene Noxen. Das Risiko einer potenziellen Fruchtschädigung ist in den einzelnen Entwicklungsphasen der Schwangerschaft unterschiedlich groß und die Art sowie das Ausmaß der Schädigung ebenso.

Die verschiedenen Phasen der Schwangerschaft und ihre Risiken

Während der Blastenphase (Konzeption bis zum 18. Tag) reagiert der Embryo noch nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip. Exogene Noxen führen entweder zum Absterben der befruchteten Eizelle (Keimtod) oder die Frucht entwickelt sich unbeschadet weiter, da sich die Zellen zu diesem frühen Entwicklungszeitpunkt noch vollständig regenerieren können. Etwa die Hälfte aller befruchteten Eizellen überleben diese Phase nicht und gehen in der Regel unbemerkt als Spontanabort ab. 

Das erste Schwangerschaftstrimenon gilt als besonders kritisch.

In der sich anschließenden Embryonalphase (19. Tag bis 8. Woche) entstehen die Extremitäten, die Körperform und die inneren Organe (Organogenese). Während dieser Zeit treten die fruchtschädigenden Veränderungen als Fehlbildungen an den Organen auf, die zu diesem Zeitpunkt gerade angelegt werden.

Sie können von partiellen Schäden (z. B. Spaltbildungen oder Herz- und Gefäßanomalien) bis zum Fehlen eines Organs (z. B. des Gehirns bei der Anenzephalie) reichen. Damit ist die größte Gefahr einer möglichen Schädigung in dieser Zeit gegeben, die man daher als kritische oder sensible Phase bezeichnet. 

Danach nimmt die Empfindlichkeit des Kindes in der Fetalphase (9. Woche bis Geburt) wieder ab. Da die Organentwicklung bereits abgeschlossen ist, kann es in dieser Zeit zu Differenzierungs- und Funktionsstörungen der angelegten Organe kommen (z. B. endokrine sowie kognitive Störungen, Wachstumsretardierung). Missbildungen sind nicht mehr möglich, dennoch gibt es etliche Arzneimittel, die nicht im dritten Trimenon eingenommen werden dürfen.

Teratogenität ist ein Stück weit individuell

Letztendlich löst aber erst das Zusammenspiel verschiedener exogener und genetischer Faktoren eine Fruchtschädigung aus. Zudem lassen sich bei der Entwicklung teratogener Schäden individuelle Unterschiede feststellen. Eine Substanz, die als fruchtschädigend gilt, löst nicht zwangsläufig bei jedem Ungeborenen Schäden aus.

Viele Frauen bringen gesunde Kinder zur Welt, obwohl sie in der kritischen Phase fruchtschädigende Pharmaka eingenommen haben. Andererseits ist es möglich, dass Substanzen, die im Allgemeinen als nicht-teratogen klassifiziert sind, im Einzelfall doch eine Missbildung verursachen.

Daher: Individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung

Die Indikation für den Arzneimitteleinsatz ist immer streng zu stellen. Es muss eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung vorgenommen werden, das heißt, Arzneimittel sollten nur dann eingenommen werden, wenn es im Einzelfall unbedingt erforderlich ist. 

Praktische Fragestellungen

Vor der Abgabe eines Arzneimittels an Schwangere sind während des Beratungsgesprächs immer mehrere Fragen abzuklären.

+ Falls eine Selbstmedikation prinzipiell möglich ist, ist diese denn auch unbedingt erforderlich?
+ Bestehen eventuell nicht-medikamentöse Alternativen (Bewegung, Ernährungsumstellung, Stressabbau)?
+ Welche Substanzen sind während der Schwangerschaft geeignet und können bedenkenlos empfohlen werden?
+ Muss die Schwangere eventuell eine schon bestehende Medikation verändern?
+ Kann die Therapie mit rezeptfreien Präparaten erfolgen oder muss die Schwangere an den Arzt weitergeleitet werden?
+ Ist die Schwangere mit Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen optimal versorgt?
+ Und falls sie Vitaminpräparate bereits einnimmt, sind diese auf den Bedarf in der Schwangerschaft abgestimmt?

Andererseits kann ein eigenmächtiges Absetzen von Medikamenten oder die Ablehnung einer notwendigen Arzneimitteltherapie nicht nur für die Schwangere, sondern auch für das Ungeborene problematisch oder gar lebensbedrohlich sein. Zahlreiche chronische oder akute Erkrankungen erfordern zum Wohle der Mutter und des Kindes eine konsequente Therapie – auch während der Schwangerschaft.

Beispielsweise muss Asthma auch bei Schwangeren ausreichend therapiert werden, um neben dem Wohlergehen der Mutter eine ausreichende Sauerstoffversorgung des Kindes zu gewährleisten. Schweres, unzureichend behandeltes Asthma ist hingegen mit einem höheren Risiko für Frühgeburtlichkeit, intrauteriner Wachstumsverzögerung und Präeklampsie assoziiert.

Erprobte Arzneistoffe in der Schwangerschaft bevorzugen

Bei der Auswahl von Arzneimitteln für Schwangere sollte daher folgendes berücksichtigt werden:

  • „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“
    Da die Störung der embryonalen Entwicklung mit höherer Dosierung zunimmt, sollten Beschwerden nur kurze Zeit mit einem Monopräparat in niedriger Dosierung behandelt werden. • Bekanntes bevorzugen Anzustreben ist zudem der Einsatz altbewährter Präparate, für die bereits ausreichende Daten zur Bewertung der Unbedenklichkeit während der Schwangerschaft vorliegen. Neue Substanzen sind hingegen wegen fehlender Erfahrungswerte zu meiden. 
  • Kurzer Einsatz
    Zudem sollte eine Arzneimitteltherapie möglichst nur kurzfristig erfolgen. 
  • Monopräparate bevorzugen
    Bei Kombinationspräparaten besteht nicht nur ein Risiko für eine Doppelmedikation, sondern auch die Gefahr, dass Schwangere irrtümlicherweise nicht geeignete Wirkstoffe zum falschen Zeitpunkt einnehmen. 
  • Arzneimittel-Check
    Aufgrund potenzieller Wechselwirkungen ist auch immer die bestehende Medikation zu berücksichtigen. 
  • Lieber lokal
    Darüber hinaus ist eine lokale Therapie einer systemischen vorzuziehen. 

Alle Handlungsempfehlungen sind ebenso auf pflanzliche Arzneimittel oder Pflanzentees anzuwenden, denn auch ihre Inhaltsstoffe können fruchtschädigend wirken.

Off-label-use oft möglich, Information wichtig

Um die Schwangere richtig beraten zu können, werden Entscheidungshilfen benötigt. Weder der Beipackzettel noch die Fachinformation helfen in der Regel wirklich weiter. Selten sind Arzneimittel explizit für Schwangere zugelassen. Hingegen finden sich meist unklare und ausweichende Formulierungen zur Anwendung in der Schwangerschaft oder es werden Warnhinweise gegeben und eine Schwangerschaft explizit unter dem Punkt Gegenanzeigen aufgeführt.

Für weitere Verunsicherung sorgen dann noch unterschiedliche Informationen verschiedener Hersteller zu identischen Wirkstoffen. Auch das ist möglich und beunruhigt nicht nur die Patientin, sondern auch das Apothekenpersonal.

Häufig wird die Schwangerschaft aus Zulassungsgründen als Kontraindikation aufgeführt. Hintergrund dafür ist kein konkreter Hinweis auf ein embryo- oder fetotoxisches Risiko. Vielmehr werden die Arzneistoffe aufgrund fehlender Studien prinzipiell als nicht geeignet für Schwangere klassifiziert. Möglich ist auch, dass sich der Hersteller von vornherein einer möglichen Haftung entziehen will. 

Dennoch kann der Einsatz des Arzneimittels in der Schwangerschaft möglicherweise medizinisch vertretbar sein. Für fast alle Erkrankungen existieren verträgliche, also in der Schwangerschaft als sicher eingestufte, Arzneimittel. Eine Anwendung von Präparaten, die bei Schwangeren keine Zulassung haben, aber möglich sind, erfolgt dann als Off-label-use.

Die Schwangere sollte in der Beratung darauf hingewiesen werden, um Irritationen beim Lesen der Packungsbeilage zu vermeiden.

Embryotox.de als valide Entscheidungshilfe

Bei der Auswahl geeigneter Präparate im Rahmen der Selbstmedikation kann auf diverse Fachliteratur sowie auf online-Datenbanken zurückgegriffen werden. Praktische Hilfestellung finden sich beispielsweise auf Embryotox, der Informationsseite des Pharmakovigilanz- und Beratungszentrums für Embryonaltoxikologie der Charité-Universitätsmedizin Berlin. 

Direkter Fachkontakt
Telefonischer Kontakt ist auch mit Reprotox, einer weiteren unabhängigen Beratungsstelle für Medikamente in Schwangerschaft und Stillzeit am Universitätsklinikum in Ulm, möglich.

Das Institut stellt unabhängige Informationen zur Verträglichkeit der wichtigsten Medikamente bei werdenden und stillenden Müttern online zur Verfügung. Ebenso lassen sich die besten erprobten Mittel zur Behandlung häufig vorkommender Krankheiten recherchieren. Die Datenbank kann unter www.embryotox.de aufgerufen werden und ist hervorragend geeignet, um auch während des Beratungsgesprächs gemeinsam mit der Kundin gezielt nach der Einsatzmöglichkeit von Arzneistoffen in Schwangerschaft und Stillzeit nachzuschlagen. Die Anwendungssicherheit der mehr als 400 Arzneistoffe werden über ein Ampelsystem bewertet. Zudem wird auch der Erfahrungsumfang klassifiziert. Darüber hinaus kann auch eine individuelle Anfrage zu Arzneimitteln über einen Fragebogen oder telefonisch gestellt werden. 

Offline Informieren via App
Als Alternative zur Suchmaschine existiert inzwischen eine kostenlose Embryotox-App für Mac- und Android-Betriebssysteme. Sie funktioniert auch im Offline-Betrieb und Flugmodus und aktualisiert sich automatisch, wenn eine Internetverbindung besteht.

Arzneimittelpass für mehr Sicherheit

Eine weitere praktische Hilfestellung bieten Materialien des Deutschen Grünen Kreuzes (DGK), deren Neuauflage im Herbst 2022 erwartet wird. Unter Mitwirkung von Experten aus dem wissenschaftlichen Beirat hat das DGK eine Medikamententabelle zum schnellen Überblick in der Beratung Schwangerer erstellt.

Gelistet sind mehr als 70 rezeptfreie Arzneistoffe für die häufigsten während Schwangerschaft und Stillzeit auftretenden Beschwerden. Nach Indikationen sortiert finden sich graduiert abgestufte Arzneimittelempfehlungen für die drei Schwangerschaftsphasen und Stillzeit. 

Zudem beinhaltet das Set Arzneimittelpässe. Darin können alle während der Schwangerschaft und Stillzeit verwendeten Medikamente dokumentiert werden. Es lassen sich deren Dosierung, ihre Einnahmedauer sowie der individuelle Grund für ihre Anwendung festhalten. Nicht nur die Frau erhält so selber eine Übersicht über die eingenommenen Mittel.

Auch leistet sie einen Beitrag zur Arzneimittelsicherheit, indem die bestehende Arzneimitteltherapie bei jedem weiteren Praxis- und Apothekenbesuch vom behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin, sowie vom pharmazeutischen Personal berücksichtigt werden kann. Wechselwirkungen sowie die Einnahme zweier identischer oder gleichwertiger Arzneistoffe kann so vermieden werden. 

Außerdem finden sich im Arzneimittelpass Angaben zum Vitamin- und Mikronährstoffbedarf, Ernährungstipps und allgemeine Ratschläge zur Linderung von vielfach in Schwangerschaft und Stillzeit vorkommenden Beschwerden. Auch werden pflanzliche Therapieoptionen vorgestellt. Konkrete Arzneimittelempfehlungen sind nur in Einzelfällen aufgeführt.

Arzneimittel in der Stillzeit

Der Gebrauch von Arzneimitteln ist auch in der Stillzeit kritisch zu hinterfragen. Nicht immer sind die Wirkstoffe, die in der Schwangerschaft eine mögliche Therapieoption waren, auch Mittel der Wahl während des Stillens. Doch auch in dieser Zeit helfen die Suchmaschinen oder die App von Embryotox sowie die Materialen des DGK oder verschiedene Fachbücher weiter.

Auf diese Weise finden sich in vielen Fällen geeignete Wirkstoffe, sodass die Mutter trotz Arzneimitteleinnahme ihr Kind beruhigt stillen kann.

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