Kaffeetasse und Serviette.© marekuliasz / iStock / Getty Images Plus
Prokrastination geht oft mit einem starken Drang nach Perfektionismus einher.

Prokrastination

WAS HINTER PATHOLOGISCHER „VERSCHIEBERITIS“ STECKT

Da habe ich jetzt gar keinen Bock drauf! Kann das nicht bis … irgendwann warten? So oder ähnlich klingt es, wenn man sich einfach nicht aufraffen kann, jetzt oder gleich eine bestimmte Tätigkeit auszuführen. Doch mit Faulheit hat Prokastination nichts zu tun.

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Der passende Spruch unserer Eltern und Großeltern dazu lautet: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!“ Bei vielen Menschen heißt das wohl eher: „Was du heute kannst verschieben, das besorge am besten auch morgen nicht.“ 

Dafür kann man ja irgendetwas anderes machen. Was steckt dahinter? Ist das Faulheit? Gleichgültigkeit? Oder hat dieses „Verschiebeverhalten“ oft vielleicht doch eine ernst zu nehmenden Ursache?

Wie heißt das denn?

Also, „verschieben“, „aufschieben“, „Verschieberitis“, „verbaseln“, „Aufschub“ – das alles klingt irgendwie vertraut. Aber „Prokrastination“ hat vielleicht noch nicht jeder gelesen oder gehört. Aber genau so nennt die Wissenschaft all dies Vertraute in besonderer Ausprägung. Und da klingt das schon nicht mehr so leicht und nach „Geht schon“. Der Begriff setzt sich zusammen aus „Pro“, dem lateinischen Wort für “vor“, „vorwärts“, und „crastinum“, was ebenfalls dem Lateinischen entnommen ist und „morgiger Tag“ bedeutet. Und schon ist klar, woher der wissenschaftliche Begriff kommt. Wie recht unsere Eltern und Großeltern doch haben!

Ein Weg der ohne ersten Schritt beginnt ist kein Weg

„Prokrastination ist ein erlerntes Verhalten, das durch das Vermeiden unangenehmer Tätigkeiten verstärkt wird“, sagt Professor Manfred Beutel, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz. Man weiß, dass man sich um eine bestimmte Sache kümmern, eine zugeteilte Aufgabe erledigen oder einfach den Stapel Post auf dem Schreibtisch abarbeiten muss.

Aber ach, wie sieht denn das Bücherregal aus? Alles verstaubt! Oje, und die alten Zeitungen sollten auch mal entsorgt werden. Gut, das hat alles schon so lange gewartet. Es kommt auf ein paar Tage nicht an. Und schon sind es mehrere Sachen, die unerledigt bleiben. 

Der innere Schweinehund ist stärker, weil …, ja, warum eigentlich? Man müsste einfach nur die Post öffnen oder einen Lappen nehmen und den Staub vom Regal entfernen. Die Zeitungen sind alt und könnten sofort in die Papiertonne gebracht werden. Aber immerhin wird jetzt erst mal das Bad geputzt! Als ob es einen unüberwindlichen Graben gäbe, der keinerlei Möglichkeit ließe, sich um das zu kümmern, was auf der anderen Seite auf Erledigung wartet.

Ist der Mensch nicht komisch? Was bringt ihn dazu, sich den Alltag dadurch vermeintlich zu erleichtern, indem er sich um viele Dinge einfach nicht kümmert, obwohl sie ihm ununterbrochen zurufen: „Wenn Du jetzt nicht anfängst, wird das immer mehr, und es dauert noch länger“? Und tatsächlich wird es immer schwerer.

Alles andere als ein Spaß

Was auf den ersten Blick wie Willensschwäche und Unlust wirkt, ist auf den zweiten Blick alles andere als lustig. Im Gegensatz zur einfachen Faulheit, bei der man es gewissermaßen genießt, nichts zu tun, wird bei der Prokrastination nämlich eine andere Tätigkeit durchgeführt, die im Moment als angenehmer erscheint, selbst wenn das Badputzen ganz sicher nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen gehört.

Besser als sich um die Post zu kümmern ist es wohl allemal! Wirklich? Denn gleichzeitig schwingt ein ungutes Gefühl mit. Das schlechte Gewissen macht sich bemerkbar. Das Bad ist dann zwar sauber, aber man kann es nicht wirklich genießen, weil ja eigentlich die dringende Post hätte erledigt werden müssen. Und damit beginnt natürlich ein Teufelskreis, in dem man leicht gefangen bleibt. Dies wiederum löst immer stärker werdende Konfliktgefühle aus, die sich irgendwann verselbstständigen und zu psychischen Problemen führen können. 

Die Arbeitsgruppe der Prokrastinationsambulanz der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat DKP-Kriterien (Diagnose-Kriterien Prokrastination) entwickelt, die enger gefasst sind als andere Definitionen: „Das wiederholte (unnötige) Aufschieben notwendiger/wichtiger Tätigkeiten in den letzten sechs Monaten an mindestens der Hälfte der Tage, obwohl Zeit zur Erledigung zur Verfügung gestanden hätte.

Stattdessen werden Ersatztätigkeiten durchgeführt, die aber nicht immer per se angenehmer sein müssen. Das führt zur starken Beeinträchtigung persönlicher Ziele und erzeugt relevantes Leiden. Es kann zur Beeinträchtigung des Leistungspotenzials, zur körperlichen und psychischen Beeinträchtigung führen, bis hin zu Selbstabwertung sowie persönlichen und beruflichen Konsequenzen.“ Pah!! Das sitzt!

Frauen sind eher betroffen als Männer

Das kann schon sein, aber das heißt doch nicht, dass man selber das jetzt auch machen muss. Oder? Nun, wenn man die Studie einer Forschungsgruppe der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und der TU Dresden liest, erfährt man Erstaunliches: Frauen neigen genetisch leichter zur Prokrastination als Männer.

Das hängt damit zusammen, dass diese Veranlagung durch einen höheren Spiegel des Botenstoffs Dopamin im Gehirn verursacht wird. In der Studie wurde besonders das Tyrosinhydroxylase-Gen (TH-Gen) analysiert. Es sorgt je nach Ausprägung für viel oder wenig Dopamin im Gehirn. 

Die genetische Anlage für höhere Dopaminlevel führte laut der Studie bei Frauen zu schlechterer Handlungskontrolle. Männer weisen demnach diesen Zusammenhang nicht auf. Die individuelle Fähigkeit eine Handlungsabsicht aufrechtzuerhalten, ohne sich von Störfaktoren ablenken zu lassen, bestimmt gemäß der Studie, ob jemand Aufgaben aufschiebt oder nicht. Die Untersuchungen dauern an.

Der an der Studie beteiligte Forscher Dr. Erhan Genç erläutert, dass Östrogen eine Rolle zu spielen scheint. Es beeinflusst demnach indirekt die Dopaminproduktion und seine Wirkung im Gehirn. Genç:„Frauen könnten also aufgrund des Östrogens empfänglicher für die genetisch bedingten Unterschiede im Dopaminlevel sein, was sich wiederum im Verhalten niederschlägt.“  Man darf gespannt sein, wohin diese Reise noch geht.

Da gibt es doch sicher noch mehr!

Gibt es auch. So wurden 2016 die Risikofaktoren für Prokrastination in einer Studie mit über 2500 Teilnehmern zwischen 14 und 95 Jahren im Rahmen des Forschungsschwerpunktes Medienkonvergenz der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz erforscht. Die Ergebnisse sind bemerkenswert: So stellte sich heraus, dass die Menschen, die eher ein Single-Dasein führten, die arbeitslos waren und über ein geringeres Einkommen verfügten, häufiger dazu neigten, Tätigkeiten aufzuschieben.

In dieser Studie waren besonders Männer unter 30 Jahren, Schüler und Studenten betroffen. Auszubildende fielen nicht ins Gewicht. Der Psychologe Marcus Eckert, Mitbegründer des Instituts Lerngesundheit und Entwickler eines Online-Trainings zur Überwindung von Prokrastination, erklärt, dass Prokrastination häufig mit klinischen Störungen wie Depressionen oder einer sozialen Angststörung korreliert.

Das ist schon ein sehr vielschichtiges Thema und nicht mit „Nun mach doch schon!“ zu erledigen. Das Verblüffende an der Prokrastination ist nämlich auch, dass sie oft mit einem starken Drang nach Perfektionismus verbunden ist. Dadurch, dass man sich selber unter gewaltigen Druck setzt, läuft man Gefahr, sich die Leistung nicht mehr zuzutrauen, den eigenen Ansprüchen nicht genügen zu können.

Kann man das wieder loswerden?

Die Psychologie geht davon aus, dass Prokrastination im Wesentlichen erlerntes Verhalten ist und damit auch wieder verlernbar. Ab wann man sich darum kümmern sollte, die Prokrastination loszuwerden, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Spätestens, wenn es zu Leiden und zu Beeinträchtigungen in Studium, Beruf oder anderen Lebensbereichen kommt, sollte nach einer Lösung gesucht werden, am besten mit professioneller Unterstützung.

Die Prokrastinationsambulanz der Psychotherapie-Ambulanz der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster schlägt dazu folgende Behandlungskomponenten vor: Strukturierung des Arbeitsverhaltens, Setzen realistischer Ziele, Umgang mit Ablenkungsquellen und negativen Gefühlen sowie systematische Veränderung der Arbeitsgewohnheiten.

Also: Wenn Ihr Partner mal wieder den Müll tagelang nicht runterbringt, dafür aber Fenster putzt, können sich dahinter ganz tiefe Probleme verbergen. Oder er hat einfach keine Lust auf Müll.

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