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Bücher, von denen man spricht

DAS GLÜCK DES GEHENS

Gesundheit kann so einfach sein: Einfach aufstehen und losgehen. Wer schon immer eine Sportart gesucht hat, die garantiert nicht überfordert, sollte sich flugs in dieses Buch vertiefen.

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Als ich ein Kind war, bestand mein Vater jeden Sonntag darauf, dass wir alle zusammen spazieren gingen. Das konnte in der Innenstadt sein – die Fußgängerzone war damals neu eingerichtet worden – oder auch im Umland, über halbschattige Feldwege und besonders gern an Seeufern. Ich fand das grauenhaft spießig. Und langweilig sowieso. Meinem Vater hätte Shane O‘Maras Buch gut gefallen. Es beschreibt ja nichts anderes als das altmodische spazieren laufen, „flanieren“ nannte man das ganz früher, wenn es in der Stadt geschah. Wie gesund das ist, das konnte ich ja nicht ahnen. Ich entschuldige mich im Nachhinein für meine stets bockige Miene beim Sonntagsritual. Shane O’Mara meint, man hätte das sogar jeden Tag machen müssen!

Mehr als tausend Schritte jeden Tag Mr. O’Mara ist Professor für Experimentelle Neurowissenschaft am Trinity College in Dublin und stets gut gelaunt, was unzählige Interviews auf You tube, im Spiegel, mit Rundfunksendern belegen. Hängt wahrscheinlich mit seiner Gewohnheit zusammen, jeden Tag um die 12 000 Schritte zu laufen. 12 000 Schritte! Der Durchschnitts-Schreibtischtäter (also ich) bringt es gerade mal auf 1500. Das ist natürlich viel zu wenig, ist mir auch klar. Der Autor hat ein ganzes Buch über seine Lieblingsbeschäftigung geschrieben, im Englischen heißt es „The Praise of walking“, also „Ein Lob auf das Gehen“, was es ziemlich genau trifft. Da Shane O’Mara, wie oben erwähnt, als Neurowissenschaftler arbeitet, wundert es nicht, dass er sich mit den Auswirkungen des Spazierengehens auf das Gehirn beschäftigt.

Und jetzt kommt’s: Wer ein Verhinderungsmittel gegen Depressionen sucht, Arthrose sehr, sehr weit aufschieben sowie den Alterungsprozess verzögern möchte, der sollte aufstehen und losgehen. So schön, wie der Autor es formuliert, soll es hier wiedergegeben werden: „Sie werden nicht alt, bis Sie aufhören zu gehen, und Sie hören nicht einfach auf zu gehen, weil Sie alt werden. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Gehen und verbesserter Kreativität, verbesserter Stimmung und einer allgemeinen Leistungssteigerung des Denkens. Die Redensart „Bewegung ist Medizin“ ist richtig: Kein Medikament hat diese positiven Effekte.“

Gehen Sie hinaus und tun Sie viele Schritte im Laufe des Tages – und zwar jeden Tag. Es wird sich auf mehr Ebenen auszahlen, als Sie sich vorstellen können. Shane O᾽Mara

Ausdauer gehört zu den Stärken des Menschen Die Fähigkeit des ausdauernden Gehens unterscheidet uns von allen anderen Bewohnern dieses Planeten, denn wir können das wirklich gut, möglicherweise am besten von allen Geschöpfen. Das wird auch der Grund gewesen sein, warum sich unser Skelett im Lauf der Jahrmillionen aufrichtete. Es versetzt uns in die Lage, Nahrung vom Boden aufzuheben, in den Mund zu stecken, beim Gehen zu essen und dabei auch noch ein Kleinkind mit uns zu tragen (das bezieht sich auf den Frühmenschen). Durch unsere relative Unbehaartheit können wir dabei auch noch besonders gut schwitzen.

Also: Wir sind gute Läufer bei mittlerer Geschwindigkeit und langen Strecken, vor allem unter warmen Wetterbedingungen. Eigentlich. Doch ach, die Realität sieht anders aus. Die Evolution hat uns da wirklich ein Bein gestellt. Weil die Energie, die beim Laufen aufgewendet wird, ja irgendwo herkommen muss, möchte der Körper die Gleichung „Bewegung = Energieaufwand = Nahrungssuche“ möglichst klein halten. Das gelingt ihm auch jeden Tag wieder hervorragend – was erklärt, warum wir so glücklich dabei sind, mit einer Tüte Chips vor dem Fernseher zu sitzen. Übergewichtigen Menschen verschafft dieses Buch einen tiefen Einblick über die Regulierungsmechanismen, die uns innewohnen.

Drei Tipps für Dauerläufer Aber es hilft ja nichts. Shane O‘Mara zählt in den folgenden Kapiteln auf, wie wir uns selbst motivieren und der im Hirn- stamm angelegten Faulheit mit dem Verstand trotzen. Als erstes empfiehlt er jedem, sich eine Schrittzähler-App auf dem Handy zu installieren. Sie sei zweifelsfrei ein Ansporn für ihn, sich mehr zu bewegen: „Sie ist mein schlechtes Gewissen“. Die Selbsteinschätzung hingegen sei äußerst unzuverlässig. Zur Beruhigung: O’Mara gehört mit seinem selbst verfügten Ziel von mindestens 9500 Schritten pro Tag zu den oberen 20 Prozent der Pedometer-User. Zweitens beschreibt er, dass Gehen für kreative Menschen ein Gewinn ist.

Denn es finden beim gleichmäßigen Takt des Spazierengehens neuronale Verknüpfungsprozesse innerhalb des Gehirns statt, die – und das ist die Überraschung – denen ähneln, in denen wir uns manchmal am Rande des Traums befinden. Die Redensart „eine Nacht drüber schlafen“ kommt nämlich nicht von ungefähr; das Gehirn löst Probleme, die für uns am Tag nicht zu knacken sind, durch freie Assoziationsprozesse in diesem ganz speziellen Ruhezustand. O‘Mara selbst diktiert sogar seine Bücher während des Spazierengehens ins mitgenommene Diktafon – man dürfe sich nur nicht an den Blicken der entgegenkommenden Leute stören, meint der fröhliche Ire. Und drittens ist da das sogenannte „Soziale Gehen“, das sich wohl evolutionär als Hauptzweck des dauerhaften Laufens entwickelte: „Die Annahme, Gehen sei eine vollkommen solitäre Tätigkeit, ist ein großes Missverständnis.“

Durch die unbewusste Synchronisation, die beim Zusammen-Laufen erfolgt, entwickeln sich gemeinsame, fließende Denkprozesse und es stärkt den Zusammenhalt – selbst wenn man gar nichts sagt. Der vom Autor zitierte Mark Twain formuliert das so: „Das Gehen eignet sich ausgezeichnet, um der Bewegung der Zunge den Takt vorzugeben und um Blut und Gehirn in Wallung und auf Trab zu bringen.“ Vielleicht erinnern Sie sich an all das, wenn Sie das nächste Mal dabei zuschauen, wie ein kleines Kind laufen lernt. Es fällt dabei durchschnittlich 17- mal in der Stunde hin, macht dabei 2368 Schritte und legt 701 Meter zurück – bis sein Gehirn die Bewegungsabläufe richtig eintrainiert hat und die Muskelgruppen sich entwickelt haben, vergehen Monate. Es wird diese Fertigkeit nie wieder verlieren - höchstens manch- mal vergessen. Gehen wir also los!

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 09/2020 ab Seite 104.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

Shane O’Mara: Das Glück des Gehens deutsche Erstausgabe, übersetzt von Hainer Kober, Rowohlt, Hardcover, 256 Seiten, 22 Euro, ISBN: 978-3-498-03579-2

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