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Nur noch Gemüse und Nüsse, und statt des getrockneten lieber frisches Obst, weil das gesünder ist: Während Bulimie und Anorexie sich um die Quantität der Nahrung drehen, achten Orthorexie-Betroffene zwanghaft auf die Qualität.

Zwänge

ORTHOREXIE – DIE ESSSTÖRUNG, BEI DER OHNE REGELN NICHTS GEHT

Bei Orthorexie wird gesundes Essen zur Obsession. Betroffene kontrollieren zwanghaft, ob ihre Nahrung bestimmten Regeln entspricht. Hier erfahren Sie, wie die Essstörung das Leben beeinflusst und warum ein gesundes Gleichgewicht so wichtig ist.

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Lieber verzichten sie aufs Essen, als etwas zu konsumieren, was nach individuellen Regeln nicht passend ist. So und anders sieht der Alltag im Leben mit Orthorexie aus. Insbesondere Mädchen und junge Frauen sind betroffen.

Der Vergleich mit scheinbar perfekten Influencern, die sich auf Plattformen wie Tik Tok und Instagram mit retuschierten Bildern und Videoclips mit zig Schönheitsfiltern präsentieren, sind oft die Initialzündung. Wenn dazu das Selbstwertgefühl gering ist, kann eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und ein Drang, sich selbst mit Diäten und Sport zu optimieren, entstehen. Der Weg in eine Orthorexie ist dann oft schleichend.

Orthorexie – was ist das?

Der Begriff „Ortho“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet richtig, gerade, korrekt. „Orexis“ - steht für „besessen vom gesunden Essen“, beziehungsweise „krankhaftes Gesundessen“. Geprägt wurde diese Bezeichnung durch den US-Amerikanischen Medizinier Dr. Steve Bratman. Und der berichtete anfangs aus seiner eigenen Erfahrung mit zwanghaftem Essverhalten. Eine genaue Diagnose ist derzeit nicht abschließend validiert. Hinzu kommt, dass es keine klare Abgrenzung zu anderen Essstörungsbildern gibt.

Ess-Störungen haben in der Pandemie zugenommen

Ganz gleich ob Instagram, Facebook, TikTok oder YouTube: Aussehen, Körpergewicht und der Weg wie dies erreicht oder gehalten wird, sind dort zentrales Thema. All das trägt entscheidend dazu bei, dass Essstörungen wie Magersucht und Bulimie in der Pubertät deutlich zugenommen haben.

In der Corona-Pandemie war bei den 12- bis 17-Jährigen zwischen den Jahren 2020 und 2021 ein Anstieg um 30 Prozent zu beobachten, heißt es in einer Auswertung von anonymisierten Versichertendaten der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH). Laut Hochrechnungen der KKH sind bundesweit etwa 50 000 Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren betroffen, davon knapp 80 Prozent Mädchen und junge Frauen. Vermutlich leiden 18 von 1000 Mädchen dieser Altersgruppe an einer Ess-Störung, während es in den Jahren 2020 und 2019 noch 13 und im Jahr 2011 noch 11 von 1000 waren.

Es wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen, da sich die Zahlen nur auf klinisch diagnostizierte Fälle beziehen. Meistens gesellen sich dazu noch Angststörungen und Depressionen.

Test zur Diagnose einer Orthorexie

Es ist also schwierig, genau zu definieren, ab wann es sich um eine Orthorexie handelt. Oder ob es einfach eine Phase ist, in der jemand verstärkt auf gesundes Essen und einen entsprechenden Lebensstil achtet. Mit Hilfe der Düsseldorfer Orthorexie Skala nach Barthels ist es für Therapeutinnen und Therapeuten sowie Betroffene möglich, Licht ins Dunkel zu bringen. Dazu sollen die folgenden zehn Fragen ehrlich und in Ruhe beantwortet werden.

Heißt es hier überwiegend Ja, kann dies die Diagnose manifestieren.

  1. Gesunde Lebensmittel zu essen ist mir wichtiger als deren Genuss.
  2. Ich habe für mich bestimmte Ernährungsregeln festgelegt.
  3. Ich finde es positiv, dass ich mehr auf mich und mein gesundes Essen achte, im Vergleich zu anderen Menschen.
  4. Ich kann Speisen und Nahrungsmittel nur genießen, wenn ich sicher bin, dass sie gesund sind und meinen Regeln entsprechen.
  5. Wenn ich etwas Ungesundes gegessen habe, mache ich mir Vorwürfe und/oder habe ein schlechtes Gewissen.
  6. Es fällt mir schwer, gegen meine Ernährungsregeln zu verstoßen oder bewusst mal eine Ausnahme davon zu machen.
  7. Eine Einladung zum Essen bei Freunden versuche ich zu vermeiden, wenn sie nicht auf gesunde Ernährung achten.
  8. Ich habe das Gefühl, dass ich wegen meiner persönlichen Maßstäbe rund ums Essen und Trinken von Freunden und Kollegen ausgegrenzt werde.
  9. Meine Gedanken kreisen ständig um gesunde Ernährung. Mein Tagesablauf ist davon stark abhängig und geprägt.
  10. Wenn ich etwas Ungesundes gegessen habe, fühle ich mich schlecht, schuldig oder bin niedergeschlagen.

Frieden durch totale Kontrolle

Gesund, abwechslungsreich und vielseitig zu essen, ist zunächst einmal eine gute Idee. Doch wie bei vielen Dingen, besteht die Gefahr, dass es aus dem Ruder gerät. So kann bei Menschen, die hier besonders empfänglich sind, aus dem Verlangen gesund zu essen und zu leben eine Orthorexie entstehen. Stehen bei Bulimie oder Magersucht die Mengen der gegessenen Lebensmittel und Gerichte im Fokus, ist es bei der Orthorexia nervosa, wie sie im Fachjargon heißt, die jeweilige Qualität.

Stehen bei Bulimie oder Magersucht die Mengen der gegessenen Lebensmittel und Gerichte im Fokus, ist es bei der Orthorexie die jeweilige Qualität.

Betroffene sind permanent damit beschäftigt zu überlegen, planen und zu kontrollieren, welche Speisen und Lebensmittel ihren eigens festgelegten Gesundheitsregeln entsprechen. Dabei ist der gesundheitliche Wert deutlich wichtiger als das reine Essvergnügen.

  • So kann es zum Beispiel sein, dass als Milch lediglich vegane, ungesüßte Mandeldrinks infrage kommen. Gibt es diese nicht beim Essen unterwegs oder einer Einladung, hat die betreffende Person sie entweder selbst dabei, oder verzichtet aufs Essen und Trinken.
  • Oder bevor es ein Glas Wein zum Essen gibt, müssen unbedingt Artischocken gegessen werden. Denn die sollen angeblich der Lebergesundheit guttun.

Meistens wird mit der Zeit die Auswahl und Vielfalt an „erlaubten“ Lebensmitteln immer kleiner. Mit der Folge, dass beispielsweise lediglich frisches Gemüse und Obst, Nüsse oder vegane Milchalternativen möglich sind. Bei deren Konsum empfinden Menschen mit Orthorexie Frieden.Sie sind in ihrer Balance undhaben die totale Kontrolle. Ähnlich wie bei anderen Ess-Störungen leiden zunehmend soziale Kontakte, bei denen Essen, Genuss und entspannt sein dazugehören.

TikTok-Trend: That Girl

Ein aktueller, bedenklicher Trend, der den Weg in eine Orthorexie ebnet, ist der „That Girl“-Trend, verstärkt propagiert auf TikTok. Dabei geht es darum, einen gesunden, ganzheitlichen Lebensstil zu zelebrieren und täglich zu befolgen. Dazu gehören zahlreiche Punkte auf einer Liste, die täglich abgearbeitet werden sollen. Bevorzugt bereites vor dem Weg zur Schule, Uni oder Arbeit.

Dabei geht es um frühes Aufstehen, Sport, Meditation, Tagebuch schreiben, gesund Essen und Beauty-Routinen. Das mag sich harmlos anhören. Doch wer schafft es schon, tagein und tagaus ein solch straffes Programm einzuhalten? Rückschläge und Misserfolge sind vorprogrammiert. Und damit Frust und Versagensgedanken. Denn die überwiegend weiblichen Protagonistinnen vermitteln den Eindruck, dass diese Programme sie zu einem besseren Menschen machen, der zu einem deutlich gesünderen Leben führt.

Orthorexie behandeln

Bleibt die Frage, ob dies nun eine Modeerscheinung oder doch eine ernst zu nehmende Ess-Störung ist. Entwickeln Menschen im Lauf ihrer Zwanghaftigkeit Mangelerscheinungen oder isolieren sich zunehmend, ist es an der Zeit therapeutisch aktiv zu werden. Was hier jeweils sinnvoll ist, sollte mit einer individuellen Verhaltens- und Problemanalyse erarbeitet werden.

Dabei sollten Betroffene wieder eine klarere Sicht auf die Bedeutung von Essen und ihrem Lebensstil entwickeln. Die Crux bei er Sache besteht darin, dass die meisten nicht bereit sind, ihr Verhalten zu ändern. Denn sie sind überzeugt und in festem Glauben, dass Richtige zu tun. Das macht die Therapie schwierig.

Orthorexie ist eine psychogene Erkrankung. Diese gehört in die Hände von geschulten Fachleuten wie Psychologen, mit Schwerpunkt Ess-Störungen. Auch Beratungsstellen für Ess-Störungen wären eine gute Anlaufstelle – auch für Angehörige. Auf der Webseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gibt es die Möglichkeit der Suche nach passenden Beratungsstellen.

Quellen:
Fachwissen der Autorin, staatlich diplomierte Diätassistentin, DKL/DGE
www.diabetologie-online.de/a/orthorexie-moderne-art-der-ess-stoerung-1762561
www.stern.de/panorama/tiktok-trend--that-girl--im-test---was-steckt-wirklich-dahinter--34367248.html
www.kkh.de/presse/pressemeldungen/essstoerungenjugendliche
„Orthorexie, Weg in die die Ess-Störung und aus ihr heraus“, Ernährungs-Umschau 03.23, Umschau Zeitschriftenverlag
https://econtent.hogrefe.com/doi/10.1026/1616-3443/a000479
www.bzga-essstoerungen.de/was-sind-essstoerungen/glossar/zeige/orthorexia-nervosa/
www.bzga-essstoerungen.de/hilfe-finden/suche-nach-beratungsstellen/

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