Nervenzellen© Christoph Burgstedt / iStock / Getty images Plus
Die Isolierschicht, das Myelin legt sich normalerweise eng um die Nervenfasern.

Multiple Sklerose

MILCH KANN MS TRIGGERN

Ein leckeres Käsebrot oder ein Glas Milch trinkt doch jeder mal ganz gern. Für Menschen mit Multipler Sklerose (MS) kann der Verzehr von Milchprodukten allerdings die Symptome verstärken. Forscher haben vor kurzem einen möglichen Grund gefunden.

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Derzeit leiden in Deutschland rund 200 000 Menschen an der neurologischen Autoimmunerkrankung. Die Symptome bei MS äußern sich durch Missempfindungen, Probleme beim Sehen und Bewegungsstörungen. In besonderen Fällen kann es auch zu ausgeprägten Lähmungen kommen. Doch nicht jeder Krankheitsverlauf ist gleich, im Gegenteil. Die Ausprägungen und Verlaufsformen gestalten sich sehr unterschiedlich und sind nur schwer zu erfassen.

Deutlich klarer sieht das Bild allerdings aus, wenn man sich die Grundlagen von MS anschaut. Hier spielen eine Mischung aus genetischen Veranlagungen, umweltbedingten Faktoren und auch Verhaltensweisen eine wesentliche Rolle. Zudem sollte auch der Bereich der Ernährung und dessen Rolle nicht aus dem Auge verloren werden. Vor allem der Konsum von Milchprodukten scheint dabei ein wichtiger Faktor zu sein. 
 

Betroffene gaben Anstoß

Ein Forscherteam um Stefanie Kürten vom Universitätsklinikum Bonn hat den Aspekt der Milchprodukte nun in einer Studie genauer untersucht und ist fündig geworden. „Wir hören immer wieder von Betroffenen, dass es ihnen schlechter geht, wenn sie Milch, Quark oder Joghurt zu sich nehmen. Deshalb entschieden wir uns, der Ursache dieses Zusammenhangs nachzugehen“, so Kürten

Kürten ist Professorin für Neuroanatomie und eine Expertin auf dem Gebiet der MS. Bereits 2018 begann sie an der Universität Erlangen-Nürnberg die Untersuchung, bevor sie vor rund anderthalb Jahren nach Bonn wechselte. Dort setzte sie die Arbeit mit ihrer jetzigen Arbeitsgruppe fort. „Wir haben Mäusen verschiedene Proteine aus der Kuhmilch injiziert“, sagt sie. „So wollten wir herausfinden, ob es einen Bestandteil gibt, auf den sie mit Krankheitssymptomen reagieren.“
 

Casein und Myelin

Bei den prominenten Milchproteinen wurden die Forscher fündig. Wurde den Mäusen der Kuhmilch-Inhaltsstoff Casein zusammen mit einem Wirkverstärker verabreicht, entwickelten einige von ihnen im Anschluss neurologische Störungen. Unter dem Elektronenmikroskop wurde dann deutlich sichtbar, dass bei ihnen die Isolierschicht um die Nervenfasern geschädigt war, das Myelin. Diese Myelin-Schicht zeigte um die Nervenfasern im Zentralnervensystem Spuren von Schäden. Ähnlich bei MS-Betroffenen war die isolierende Hülle durchlöchert und Casein scheint der Auslöser zu sein. 

„Als Grund vermuteten wir eine fehlgeleitete Immunreaktion – ähnlich wie bei MS-Kranken“, so Erstautorin Rittika Chunder. Daraus ergab sich ihr zufolge ein konkreter Verdacht: Es könnte eine Kreuzreaktivität vorliegen. „Die körpereigene Abwehr attackiert dabei eigentlich das Casein, zerstört aber auch Proteine, die an der Bildung des Myelins beteiligt sind“, erklärt Chunder.
 

Kritische Verknüpfung

Aber wie kommt es zu einer solchen Kreuzreaktivität? Die entsteht, wenn sich zwei Moleküle zumindest in Teilen sehr ähneln. Dann kommt es aufgrund der Ähnlichkeit im Immunsystem zu einer Verwechslung. „Wir haben das Casein mit verschiedenen Molekülen verglichen, die für die Produktion von Myelin wichtig sind“, so Chunder. „Dabei sind wir auf ein Eiweiß namens MAG gestoßen. Es sieht dem Casein in manchen Bereichen ausgesprochen ähnlich - so sehr, dass bei den Versuchstieren die Antikörper gegen Casein ebenfalls gegen MAG aktiv waren.“

Die körpereigene Abwehr richtete sich in den Casein-behandelten Mäusen auch gegen MAG. Dadurch wird das Myelin destabilisiert. Nun stellt sich die Frage, inwieweit sich die Ergebnisse aus dem Tiermodell auch auf Menschen mit MS übertragen lassen. 
 

B-Zellen sprechen auf Casein an

Um entsprechende Hinweise auf die medizinische Bedeutung zu erlangen, gaben die Forscher in Laborversuchen Casein-Antikörper von Mäusen zu Proben von menschlichem Hirngewebe. Es zeigte sich, dass sie sich dort an den Zellen anreicherten, die im Gehirn für die Myelin-Produktion verantwortlich sind.

Ein weiterer Befund untermauerte die Ergebnisse: Die für Antikörperproduktion zuständigen B-Zellen im Blut einiger MS-Patienten sprechen laut den Studienergebnissen oft stark auf Casein an. Es ist anzunehmen, dass MS-Patienten durch den Konsum von Milchprodukten zu irgendeinem Zeitpunkt eine Allergie gegen Casein entwickelt haben. Nun kommt der Prozess in Gang, dass nach der Aufnahme von Milch das Immunsystem Antikörper gegen das Protein bildet. Im Anschluss kommt es dann aufgrund der Kreuzreaktivität mit MAG zu Schädigungen an der Myelin-Schicht um die Nervenfasern.

Milch spielt aber nicht generell eine Rolle bei MS-Patienten. Den Ergebnissen der Studie zufolge betrifft es nur Patienten, die gegen Kuhmilch-Casein allergisch sind. „Wir entwickeln momentan einen Selbsttest, mit dem Betroffene überprüfen können, ob sie entsprechende Antikörper in sich tragen“, erklärt Kürten, die auch Mitglied im Exzellenzcluster ImmunoSensation2 ist. „Zumindest diese Subgruppe sollte auf den Konsum von Milch, Joghurt oder Quark verzichten.“

Erhöhtes Risiko für MS-Erkrankung

Aufgrund der Ergebnisse geben die Wissenschaftler zu bedenken, dass der festgestellte Mechanismus impliziert, dass Milchkonsum auch ein höheres Risiko für eine MS-Erkrankung bedeuten könnte. Die Krux an der Sache ist die: Sobald eine Immunantwort auf Casein entstanden ist, kann es theoretisch zu einer Kreuzreaktivität mit dem Myelin kommen. 

Natürlich muss es bei einer Überempfindlichkeit gegen Casein nicht automatisch zu einer MS kommen. Laut den Forschern sind wahrscheinlich weitere Risikofaktoren notwendig. Doch ein statistischer Zusammenhang lässt laut Kürten aufhorchen: „Studien zufolge sind die MS-Zahlen in Bevölkerungsgruppen erhöht, in denen viel Kuhmilch konsumiert wird.“

Quellen:
https://www.wissenschaft.de/gesundheit-medizin/wie-milch-multiple-sklerose-verstaerken-kann/ 
https://idw-online.de/de/news789244 
Rittika Chunder et al.: „Antibody cross-reactivity between casein and myelin-associated glycoprotein results in central nervous system demyelination with implications for the immunopathology of multiple sclerosis“, Proceedings of the National Academy of Sciences, 2. März 2022. https://www.pnas.org/doi/full/10.1073/pnas.2117034119 
 

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