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Medikamentenentwicklung

AM TIER ODER IN VITRO GETESTET?

Die Liste der Presseberichte über versuchstierfreie Testverfahren ist lang und vielversprechend. Doch wie viele der Erwartungen können in der Arzneimittelforschung tatsächlich schon umgesetzt werden?

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Auch wenn es für eine Reihe konkreter Fragestellungen bereits Ansätze gibt, die ohne Versuchstiere funktionieren, gilt, kommt man derzeit noch nicht ohne Versuche an Tieren aus. Gemäß dem 3R-Prinzip, dem sich Industrieverbände und Europäische Kommission verpflichtet haben, sollen aber, wo es geht, weniger Versuchstiere (Reduction), herangezogen werden, diese weniger belastet werden (Refinement) und wo möglich Tierexperimente auch gänzlich ersetzt werden (Replacement).

Zell- und Organkulturen Neben biochemischen Tests und Zellkulturen gibt es Ansätze, die organspezifische Gewebekulturen aus humanen Zellen verwenden, beispielsweise Haut-, Schleimhaut- aber auch Augenhornhautmodelle. Auch ein Lebermodell inklusive eines funktionsfähigen Systems von Blutgefäßen, mit dem man die Gefäßversorgung des Organs im Körper simuliert, wurde entwickelt. Es könnte ein besonders interessantes System für Medikamententests werden. Schließlich können sich beim Ab- oder Umbau in der Leber die Eigenschaften von Stoffen ändern – in manchen Fällen entsteht ein Gift.

Auch auf mögliche Gefahren, die sich durch die Einnahme neuer Stoffe in der Schwangerschaft für das ungeborene Kind ergeben könnten, muss untersucht werden. Hierfür müssen heute nicht mehr trächtige Ratten geopfert werden; ein Test mit embryonalen Stammzellen der Maus liefert ebenso wertvolle Hinweise.

Da Stammzellen das Potenzial haben, sich in Zellen verschiedener Gewebetypen zu differenzieren, sind sie vielseitig einsetzbar. Beispielsweise hat man aus Stammzellen der menschlichen Haut ein Miniaturherz gezüchtet, das richtig schlägt. Anderen Forschern gelang mit der Kultivierung mehrerer Zelltypen die Entwicklung eines dreidimensionalen Darmgewebemodells, an dem die Resorption von Stoffen nachgestellt werden kann. Beides sind mögliche Modelle für die Testung neuer Medikamente.

Nutzung von Chiptechnologie und digitale Simulation Interessant ist der Ansatz, auf Siliziumchips Nervenzellen aufzubringen, die sich dort miteinander vernetzen. Bei Zugabe chemischer Substanzen reagieren die Neuronen mit verschiedenen Signalen; diese elektrische Aktivität kann man ableiten und messen. Die verschiedenen Reaktionen lassen sich dann Computer-gestützt mit dem Aktivitätsmuster vergleichen, das bereits bekannte Substanzen induzieren.

Procedere
Während des langen Entwicklungswegs bis zur Zulassung müssen Arzneimittelkandidaten zahlreichen Prüfungen unterzogen werden, um neben ihrer Wirksamkeit vor allem auch ihre Sicherheit zu belegen. Bevor neue Stoffe in klinischen Studien geprüft werden, werden sie insbesondere genauestens auf ihre Unbedenklichkeit bei der Anwendung am Menschen hin untersucht. In der präklinischen Prüfung ist dafür ein ganzes Programm an Testverfahren gesetzlich vorgeschrieben.

Schon heute kann ein solcher Chip die Vorauswahl von möglicherweise ZNS-wirksamen Therapeutika in der Frühphase vereinfachen. So kann sehr früh in der Medikamentenentwicklung eine eventuelle Neurotoxizität entdeckt werden – ohne Einsatz von Versuchstieren. Lediglich für die Herstellung einer Chipserie wird das Gehirn eines Mausembryos benötigt.

Auch andere Organe und ihre Funktion versucht man in ähnlicher Weise nachzustellen (Lab-on-a-Chip oder auch Organ-on-a-Chip). Allerdings: Mit den bisher erarbeiteten Modellen können nur Reaktionen von Zellen oder Geweben auf einfache, genau umschriebene Reize aufgespürt werden, wichtige Vorgänge wie Aufnahme und Verteilung im Körper sowie die Metabolisierung des zu prüfenden Stoffs bleiben unberücksichtigt, erklären die Wissenschaftler.

Ein weiterer faszinierender Weg ist es, die Situation der lebendigen Welt gewissermaßen in mathematische Funktionen zu „übersetzen”. Die Systeme müssen mit früheren realen Versuchen „gefüttert” werden. Wenn solche Computersimulationen eines Tages ausgereift sind, könnte es gelingen, damit neue Stoffe zu testen, so die Hoffnung.

Auch das beste Modell eines Organs in Funktion erfasst jedoch nicht die Situation im lebenden Organismus; es bildet immer nur ein Ausschnitt dessen ab, was in vivo passiert. Bisher ist noch kein Verfahren entwickelt worden, mit dem es gelingt, Effekte im Gesamtorganismus zu erkennen, wie beispielsweise eine chemische Umwandlung der Prüfsubstanz an unerwarteter Stelle oder ihre Anreicherung in Geweben.

Weniger Versuchskaninchen Einen gewissen Fortschritt hat man dadurch erzielt, dass der so genannte Draize-Test wenigstens teilweise ersetzt werden konnte. Bisher wurden diese qualvollen Untersuchungen zur Überprüfung der Augen- beziehungsweise Schleimhautirritation durch Fremdstoffe am Auge lebender Kaninchen durchgeführt. Mit einer Alternativmethode, die mit Hühnereiern arbeitet (HET-CAM-Test), können besonders stark reizende Stoffe ohne die Tiere identifiziert werden. Substanzen, die in diesem Vortest nicht auffallen, müssen aber weiterhin am Kaninchenauge getestet werden.

Ein anderer Kaninchentest ist dagegen seit zwei Jahren überflüssig: Früher wurden zur Injektion vorgesehene Arzneimittel zunächst Tieren gespritzt, um auszuschließen, dass sie mit gefährlichen Mikroorganismen oder deren Bestandteilen, etwa bakteriellen Toxinen, verunreinigt sind. Mit dem In-vitro-Pyrogentest kann heute mithilfe von Blut freiwilliger Spender, also im Reagenzglas, nach den unerwünschten Stoffen gefahndet werden.

Bei der Herstellung monoklonaler Antikörper, die in der Therapie vieler unterschiedlicher Erkrankungen wichtig sind, wurden früher die Zellen, die die gewünschten Immunglobuline produzieren, zur Vermehrung in die Bauchhöhle von Mäusen injiziert – ein für die Tiere stark schmerzhafter Versuch. In Deutschland darf schon seit längerem bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr mit diesen so genannten Aszites-Mäusen gearbeitet werden; man nutzt stattdessen Bioreaktoren zur Kultivierung der Antikörper-produzierenden Zellen.

Da Botulinumtoxin – nicht nur Lifestyle-Produkt, sondern auch wertvolles Therapeutikum bei neurologischen Erkrankungen – so außerordentlich giftig ist, ist es notwendig, jede einzelne Charge neu zu testen, bislang in qualvollen Versuchen mit Mäusen. Hier gibt es inzwischen Alternativen wie den SNAP-25-Test, bei dem in vitro anhand der chemischen Spaltung eines synthetischen Proteins die lähmende Wirkung direkt gemessen wird.

Der lange Weg bis zur behördlichen Freigabe Alle neuen Methoden werden zunächst einem jahrelangen Validierungsprozess unterworfen, in dem ihre Eignung zur Detektion eventueller Nebenwirkungen oder Risiken erst bewiesen werden muss: im Vergleich mit den etablierten Tierversuchen. Kritiker wenden ein, dass einige der innovativen Verfahren mit der tatsächlichen Situation im Menschen besser übereinstimmen als die traditionellen Tierversuche.

Daher sei der geforderte Nachweis problematisch: Die Resultate der alternativen Verfahren wichen – gerade, weil sie exakter seien – von dem ungenaueren Referenz-Ergebnis ab. Sinnvoll ist in jedem Fall, dass die Reproduzierbarkeit der neuen Prüfmethoden in voneinander unabhängigen Labors nachgewiesen wird.

ZUSATZ-INFORMATIONEN

Wie gut ist die Aussagekraft von Tierversuchen?

An dieser Frage scheiden sich die Geister. Studien zufolge treten rund 80 bis 90 Prozent der Nebenwirkungen, die beim Tier ausgeschlossen wurden, auch beim Menschen nicht auf. Als weiterer Beleg für eine weitgehende Übereinstimmung kann auch gelten, dass in vielen Bereichen Human- und Tiermedizin mit den gleichen Medikamenten arbeiten.

Immer mehr Forscher betonen jedoch, dass am Tier gewonnene Ergebnisse sich nur sehr bedingt auf die Verhältnisse im menschlichen Körper übertragen lassen. So zeigt eine kürzlich veröffentlichte amerikanische Studie, dass Entzündungsprozesse bei Mensch und Maus auf Genom-Ebene jeweils komplett andere Reaktionen auslösen.
 
Bei der Erforschung von Therapeutika gegen Autoimmunerkrankungen soll es immer wieder Überraschungen geben, weil Experimente mit Nagetieren Wirksamkeit signalisieren, die sich im klinischen Test nicht einlösen lässt. Andererseits: auch wenn durch Tierversuche sicher nicht jede mögliche Nebenwirkung ausgeschlossen wird, so machen sie doch oft auf Gefahren aufmerksam, die ohne sie erst (zu) spät entdeckt würden.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 07/13 ab Seite 100.

Waltraud Paukstadt, Dipl. Biologin

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