Festtagsvorbereitung
WENN WEIHNACHTEN IM MAI BEGINNT
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Der Weihnachtsstress überkommt Astrid Lange manchmal mitten im Hochsommer. „Spätestens Ende August muss die Vorlage für meinen neuen Adventskalender in der Druckerei sein“, erläutert die Berliner Künstlerin. Sonst reicht die Zeit nicht, um vor dem Advent genug Exemplare herstellen zu lassen und sie in Museumsshops und Buchläden zu liefern. Langes handgezeichnete „Stadt-Adventskalender“ unter anderem von Dresden, Berlin, Potsdam, Hamburg oder Herrnhut funktionieren als Kombination aus klassischem Papierkalender zum Aufstellen und digitaler Wissensvermittlung: Zu jedem Motiv hinter einem der 24 Türchen gibt es einen Text auf der jeweiligen Internetseite des Stadtkalenders.
Dort wird täglich eine kleine Anekdote aus Kultur, Geschichte und Gegenwart der jeweiligen Stadt verraten. Dafür hat Lange sich auch an heißen Sommertagen überlegt, was sich hinter welchem Türchen auftun soll. Sie hat sich Detailwissen angelesen, ist durch Stadtviertel gelaufen, auf Kirchtürme geklettert. „Irgendwann sitze ich am PC, schaue mir Straßenzüge auf Google Maps an, betrachte Fotos und Notizen, und fange an zu zeichnen“, erzählt sie.
Manchmal sogar mehrere Jahre Vorlauf Auch andere stecken in der warmen Jahreszeit längst in den Weihnachtsvorbereitungen. „Wir fangen mit den Chorproben zum Weihnachtsoratorium im Mai an“, berichtet Reinhold Pfeifer, Vorstand des KölnChor. „Und wenn ich für den Aufführungsabend ein gutes Orchester möchte, muss ich das schon zwei Jahre vorher engagieren.“ Im KölnChor singen rund 100 Männer und Frauen, haben große Auftritte, unter anderem in der Kölner Philharmonie, gehen auf Konzertreise. Für die anspruchsvollen Werke, die sie aufführen, gilt laut Vorstand: „Da brauchen wir Vorlauf.“
Mit Vorlauf zur Weihnachtszeit arbeitet seit Jahren auch der Inhaber des Hanauer Buchladens am Freiheitsplatz, Dieter Dausien: „Wir haben überwiegend Stammkundinnen und Stammkunden, bei denen wir uns am Jahresende mit einem kleinen Buch bedanken. Dafür überlegen wir ab dem Frühjahr, was wir als Weihnachtspräsent nehmen.“ Außerdem werden bereits die Kalender bestellt. Im Sommer wird Geschenkpapier fürs Weihnachtsgeschäft ausgesucht und geschaut, was es außer Büchern noch Schönes zu kaufen geben soll. „Auch die Kataloge für Lebkuchen kommen im Sommer“, listet Dausien weiter auf. Weil seine Buchhandlung viele Schulen beliefert, bekommen die zu Weihnachten Buchpakete für ihre Bibliotheken mit süßer Ergänzung geschenkt.
Kunst braucht Zeit Die Wiesbadener Künstlerin Alexandra Jahnke betont: „Man muss rechtzeitig anfangen. In den speziellen Läden für Künstlerbedarf ist es spätestens Ende Oktober eigentlich schon vorbei mit Weihnachten.“ Jahnke hat ein Hobby aus Kindertagen weiterentwickelt und zum Beruf gemacht. Die ausgebildete Ingenieurin bemalt kunstvoll und auf Wunsch individualisiert Christbaumkugeln. Inspirieren lässt sie sich unter anderem von alten, traditionellen Mustern aus ihrer ursprünglichen Heimat Slowakei. Weil sie für ihre Unikate Zeit braucht, muss Jahnke rechtzeitig beginnen. „Es fällt mir manchmal schwer, mich nach den Sommerferien aufzuraffen“, gibt sie zu. „Aber wenn ich warte, bis es kühler wird, ist es zu spät.“ Helfen Spekulatius oder Weihnachtstee als Stimmungsmacher? Klares Nein: „Für mich ist klassische Musik wichtig, damit ich mich konzentrieren kann. Wenn ich erst einmal angefangen habe, dann läuft es.“
Lebkuchen im Sommer, Nikoläuse im Herbst Die Süßwarenindustrie legt ebenfalls früh los. Dominosteine, Stollen und Lebkuchen finden sich ab August in den Regalen, als sogenanntes Herbstgebäck. Der Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie behauptet, das sei gewollt: „Manche Verbraucherinnen und Verbraucher hätten sich den Herbstgebäck-Start in diesem Sommer mit seinen oftmals verregneten und kühlen Tagen möglicherweise schon vorher gewünscht.“ Weihnachtsmänner und Schokokugeln für den Baum folgen später, damit sie nicht schmelzen. Spekulatius und Weihnachtstee für die Pause bei Chorproben? Pfeifer braucht das auch nicht. „Natürlich probt man im Sommer lieber Opernchöre oder die Carmina Burana. Aber wenn es dann losgeht mit dem Weihnachtsoratorium, steckt man schnell voll und ganz drin.“
Dausien erläutert, das Lesen und Auswählen neuer Bücher mit Blick auf den Weihnachtsverkauf laufe die ganze Zeit mit: „Meinen Kolleginnen und mir ist sehr bewusst, dass die zweite Jahreshälfte die umsatzstärkere ist.“ Aber vieles sei nicht vorhersehbar, man müsse flexibel reagieren. Ein Beispiel aus seinem Laden? Die starke Nachfrage nach dem Roman „Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Leky vor ein paar Jahren. Ein Buch voller Verrücktheiten über die Liebe und das Leben, die einem vor der dörflichen Kulisse des Westerwalds aber als ganz selbstverständliche Entwicklungen erscheinen – ein großer Empfehlungstitel des Hanauer Buchladens.
Zurück zu Kalender und Kugeln Lange darf Verrücktheiten hinter Türchen stecken, braucht aber selbst viel Disziplin. Der sommerlichen Herstellungsarbeit an einem neuen Kalender folgt die herbstliche Vertriebsarbeit, das Präsentieren und Verkaufen der Stadtkalender in Buchhandlungen und Shops. Eine Phase mit Hochs und Tiefs: „Vorher mache ich alles ganz allein. Dann ist es schön, in Läden und zu Leuten zu kommen. Manchmal stoße ich aber erst mal auf Distanziertheit. Wenn ich dann meine Kalender auspacke, eine freudige Reaktion kommt, sich tolle Gespräche entwickeln, ist das wunderbar für mich als Künstlerin.“ Wenn man lange im Voraus für die Weihnachtsfreude anderer gearbeitet hat: Kann man die Feiertage dann überhaupt noch genießen? Ein klares Ja von Chorvorstand Pfeifer: „Es gefällt mir noch.“
Jahnke sagt: „Ich dekoriere noch gern das Haus oder den Tisch. Aber den Weihnachtsbaum müssen meine drei Männer schmücken. Kugeln kann ich dann nicht mehr sehen.“ Buchhändler Dausien erlebt es alle Jahre wieder: „Arbeit, Stress, Umsatz steigen zum Ende hin an. Hochpreisiges wird eher am Anfang gekauft, Bücher tendenziell bis auf den letzten Drücker.“ Irgendwann ist er immer fast k.o., aber: „Es ist auch wie ein Rausch. Und das beflügelt einen dann wieder.“ Wenn es vorbei ist, wenn die Festtage gekommen sind, kann er sie genießen: „Ich bin immer da, wo ich bin. Ich muss nicht immer ans Geschäft denken.“ Lange ist bis einschließlich 24.12. Tag um Tag damit beschäftigt, die Texte für alle Adventskalender freizugeben. Für sie hat die Kalenderarbeit einen schönen Nebeneffekt, den sie genießt, sobald alle Türchengeheimnisse gelüftet sind: „Ich habe keinen guten Orientierungssinn. Wenn ich mich für einen Kalender aber einmal mit einer Stadt befasst habe, verlaufe ich mich dort nicht mehr.“
Diesen Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 11/2021 ab Seite 134.
Sabine Rieser, freie Journalistin