Abbildung des Magen-Darm-Traktes.© peterschreiber.media / Anastasia Malachi / iStock / Getty Images
Eine multinationale Studie stärkt die Annahme, dass funktionelle Magen-Darm-Beschwerden weit verbreitet sind.

Funktionelle Magen-Darm-Beschwerden

SCHMERZEN IM DARM ERNST NEHMEN

Wenig Wissen, wenig Empathie – zu schnell werden Menschen mit funktionellen Magen-Darm-Schmerzen in die Ecke der psychosomatischen Befindlichkeitsstörungen gestellt. Dabei leiden sie unter einem massiven Verlust an Lebensqualität.

Seite 1/1 5 Minuten

Seite 1/1 5 Minuten

Stellen Sie sich vor, Sie müssten jeden Tag Diät halten, auf alles achten, was Sie zu sich nehmen, dazu auf Alkohol und Coffein verzichten, verarbeitete Lebensmittel meiden – und Sie würden sich trotzdem schlecht fühlen. So ergeht es häufig Menschen mit funktionellen Magen-Darm-Beschwerden.

Die viszeralen Schmerzen fühlen sich dumpf an, sind schwer zu lokalisieren und werden häufig von Übelkeit, Schweißausbrüchen, Flatulenzen, Diarrhö oder Obstipation, sogar von Erbrechen begleitet. Aber auch von plötzlich auftretenden, lokal abgrenzbaren stechenden oder brennenden Schmerzen berichten Betroffene.

Funktionelle Magen-Darm-Beschwerden als Ausschlussdiagnose

Keine Routineuntersuchung konnte bislang einen organischen Grund für die Beschwerden liefern, diverse Kameras zeigen keine biochemischen Veränderungen des Magen-Darm-Traktes und Lebensmittel-Unverträglichkeiten können zumeist auch ausgeschlossen werden. Die ständigen Arztbesuche und der Eindruck, sich für seine Beschwerden rechtfertigen zu müssen, sind für Betroffene zusätzlich belastend. 

Mit den neuen Rom-IV-Kriterien 2016 werden erstmalig auch Beschwerden thematisiert, die mit Störungen der Darm-Hirn-Achse einhergehen oder auf ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren beruhen. Krankheiten wie Reizdarm, Reizmagen oder funktionelle Obstipation werden demnach umfassender betrachtet, die Definition verbessert. Dennoch bleibt es am Ende eine Ausschlussdiagnose. 

Rom-IV-Kriterien
Bei den Rom-IV-Kriterien handelt es sich um Diagnosekriterien für funktionelle gastrointestinale Störungen. Sie wurden 2016 von der Rome Foundation veröffentlicht und lösten die bis dahin geltenden Rom-III-Kriterien ab.

Denn die Symptome funktioneller und organischer Ursachen ähneln sich oder überlappen zum Teil. So müssen im Vorfeld unter anderem chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Zöliakie oder Krebserkrankungen ausgeschlossen werden.

Auch möglicherweise beteiligte Organe wie Leber oder Galle müssen sich einem Screening unterziehen. Zudem können auch Mischformen vorliegen, eine Person kann also unter einer funktionellen Dyspepsie leiden und gleichzeitig eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung haben.

Hohe Dunkelziffer

Eine multinationale Studie stärkt die Annahme, dass funktionelle Magen-Darm-Beschwerden weit verbreitet sind, zumindest im westlichen Teil der Welt. Es wird aber eine deutlich höhere Prävalenz vermutet – Scham, Eigentherapie oder auch Fehldiagnostik können Gründe sein. 

Man geht davon aus, dass knapp 40 Prozent der Bevölkerung von funktionellen Magen-Darm-Beschwerden betroffen sind, vorwiegend Frauen.

Denn gastrointestinale Störungen können auch Symptome anderer gesundheitlicher Probleme wie beispielsweise chronischer Schmerzen sein. Oder psychischer Natur sein. Ebenso können Depressionen oder Angststörungen Begleiterscheinungen funktioneller Magen-Darm-Beschwerden sein.

Bestehen mehrere Faktoren gleichzeitig über einen längeren Zeitraum nebeneinander, eröffnet sich für Heilberufler ein klassisches Henne-Ei-Problem. Und auch Betroffene wissen häufig nicht mehr, was zuerst da war. 

Hintergrundinformationen zu funktionellen Magen-Darm-Beschwerden

Beschwerden sind keine Befindlichkeitsstörung

Zudem legitimieren viele Therapeuten Krankheitsbilder weiterhin erst dann, wenn eine pathologische Ursache erkennbar ist. Der Rest sei psychosomatisch. Und nicht schwerwiegend. 

Tatsächlich besteht keine akute Gesundheitsgefahr, auch wenn Langzeitfolgen je nach Schwere der Symptomatik schwer abzuschätzen sind. So können bei anhaltenden Gastritiden Ulcera auftreten, Obstipation zu Hämorrhoidalbeschwerden führen oder einen Medikamentenabusus mit sich bringen.

Außerdem wird häufig die leidende Lebensqualität außer Acht gelassen: Arbeiten, Urlaubsreisen, Restaurantbesuche – wichtige soziale Komponenten des Lebens, die für Betroffene nur eingeschränkt oder gar nicht zu genießen sind.

Multifaktorielles Geschehen und Hypersensibilität

Jahr für Jahr kommen neue Erkenntnisse hinzu, doch warum es genau zu Schmerzen kommt und diese anhalten, teilweise sogar trotz Therapie, ist weiterhin unklar. Man geht mittlerweile von einem multifaktoriellen Geschehen aus: Es können körperliche und/oder psychosoziale Einflüsse vorliegen und daraus resultierende Lerneffekte:

  • Hypothese 1: Hypersensibilität Es wäre beispielsweise denkbar, dass ein Reizdarmpatient in der Vergangenheit mal einen heftigen Magen-Darm-Infekt erlitt und es dadurch zu kleinen Veränderungen an der Darmwand gekommen ist. Mit der Zeit fühlen sich Darmbewegungen, die vorher nicht gespürt wurden, plötzlich unangenehm an oder schmerzhaft. Diese neue Hypersensibilität ist ein Erklärungsansatz für funktionelle Magen-Darm-Beschwerden, die Schmerzschwelle ist herabgesenkt, die Schmerzverarbeitung im Gehirn verändert.
  • Hypothese 2: Bauch-Hirn-Achse Aus Hypothese 1 kann man folgern, dass Bauch und Hirn folglich miteinander kommunizieren. Die Existenz dieser Darm-Hirn-Achse stellt einen weiteren Erklärungsansatz dar. 
  • Hypothese 3: verändertes Mikrobiom In verschiedenen Studien wurde festgestellt, dass Betroffene mit funktionellen Magen-Darm-Beschwerden über eine veränderte mikrobielle Darmbesiedelung verfügen. Die Zusammensetzung der Besiedelung sowie dessen Funktionalität scheinen Einfluss auf die Entstehung und den Verlauf funktioneller Magen- Darm-Beschwerden zu haben.
  • Hypothese 4: Darmveränderungen Neben Stress, der die Beschwerden verstärken kann, werden auch eine verringerte Barrierefunktion der Tight Junctions im Darmepithel sowie lokale Immunreaktionen der Mukosa werden diskutiert.

Behandlung ist rein symptomatisch

Ein multimodales Geschehen bedarf eines ebensolchen Therapieansatzes:

  • Ernährungsberatung,
  • Bewegung,
  • Psychoedukation und
  • eine evidenzbasierte symptomorientierte Pharmakotherapie.

Denn auch, wenn sich die Beschwerdebilder überlappen, sollte jede funktionelle Darmerkrankung individuell und nach Beschwerdebild therapiert werden. Ein besonderes Augenmerk liegt hierbei auf dem Mikrobiom, hier kann viel über die Ernährung gesteuert werden.

Ernährungsempfehlungen bei funktionellen Magen-Darm-Beschwerden

Eine ausgewogene Vollkost beziehungsweise eine angepasste Vollkost bildet häufig die Basis der Ernährung bei funktionellen Magen-Darm-Erkrankungen. Das bedeutet, dass keine generellen Diäten ausgesprochen werden, sondern ausgewogen und vollwertige Speisen verzehrt und lediglich individuell unverträgliche Lebensmittel gemieden werden. Ein Ernährungstagebuch kann dabei helfen. Die FODMAP-Diät stellt aktuell die einzige evidenzbasierte Restriktionsempfehlung für alle Reizdarm-Typen dar.

FODMAP ist die Abkürzung für fermentierbare Oligo-, Di-, Monosaccharide und (and) Polyole. Also Fructose und Galactose, Lactose, Fructane, Inulin und Galacto-Oligosaccharide sowie Sorbit und Mannit. Sie kommen in vielen eigentlich gesunden und ballaststoffreichen Lebensmittel wie Obst, Gemüse oder Vollkorn vor. Dennoch zeigt die Praxis, dass viele Betroffene von einer Umstellung profitieren. Langfristig sollten aber immer wieder Toleranzversuche gestartet werden, um Mangelerscheinungen zu vermeiden.

Sollten Probiotika verwendet werden, dann solche mit klinisch gut untersuchten Bakterienstämmen in geeignet hoher Dosierung. In den Leitlinien finden sich Empfehlungen einiger Bifido- und Lactobacillus-Stämme sowie E.coli Nissle 1917.

Die weitere medikamentöse Therapie sollte nur begrenzt, nicht prophylaktisch oder als Dauertherapie eingesetzt werden. Bei Beschwerden sollte aber ebenso wenig gegeizt werden. Menschen mit Obstipation können Laxanzien wie Lactulose, Macrogol oder Bisacodyl einnehmen, dauerhaft auch lösliche Ballaststoffe oder Flohsamenschalen bei ausreichender Flüssigkeitszufuhr.

Stehen Blähungen im Vordergrund, kann Simeticon helfen. Bei Krämpfen und Schmerzen im Darm stehen klassische Spasmolytika wie Butylscopolamin, aber auch Phytopharmaka, zum Beispiel hochdosiertes Kümmel- und Pfefferminzöl, zur Verfügung. Durchfälle können ebenfalls mit Präparaten der Selbstmedikation therapiert werden, beispielsweise mit Loperamid. 

Bei einem Reizmagen werden in der Leitlinie lediglich Protonenpumpenhemmer empfohlen, um die Säureproduktion zu reduzieren. Doch auch Therapieversuche mit spasmolytischen oder tonisierenden Phytopharmaka können Betroffenen Linderung bringen, zum Beispiel eine fixe Kombination mit der Bitteren Schleifenblume als Leitsubstanz oder Kamillenextrakt.

×