Vater ermahnt Tochter© Jupiterimages / iStock / Getty Images

Lebensthemen

WO LIEGT DER GRUNDSTEIN?

Warum bin ich nicht gut genug? Warum können andere immer mehr als ich? Sind Ihnen solche Fragen bekannt? Die Wertvorstellungen der Eltern können bereits in frühen Kindertagen Komplexe, Minderwertigkeitsgefühle und Selbsthass aufbauen.

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Kennen Sie das? Sie hatten eine heitere Kindheit, die Familie ist der Fels in der Brandung, Freunde kamen und gingen oder blieben, Schule und Ausbildung haben mal mehr, mal weniger gut geklappt, in der Apotheke läuft’s, und viele haben bereits selber eine Familie gegründet. Alles ist gut. Wäre da nicht immer wieder diese eine Sache, die schon seit Jahren nervt: Zweifel. Sie sind entweder konstant da oder sie tauchen sporadisch immer wieder auf. Dabei ist es egal, ob es sich um Prüfungen handelt, um die Aufregung von der ersten bis zur letzten Partnerwahl oder um die Versagensangst, wenn es um das Erreichen eines bestimmten Zieles geht. Es ist ja durchaus nichts Schlimmes, wenn jemand nicht vor vermeintlichem Selbstvertrauen und überbordender Selbstverliebtheit nur so strotzt. Aber diese latent lauernden Bedenken wirken sich auf die Psyche aus, sie bringen oft Traurigkeit, Depression und Rückzug mit sich. Was ist da los?

Du kannst das eh nicht! Es ist schwer zu sagen, ob Eltern aus eigener Unsicherheit heraus ihr Kind von vornherein als nicht gut genug einstufen. Sehr häufig ist es der Wunsch der Eltern, dass es ihr Sprössling einmal besser haben soll als sie selber. Das ist vom Ansatz her eine gute Idee, aber sie lässt erstens die Vorstellungen des Kindes außer Acht, und zweitens baut sie beim Nachwuchs enormen Leistungsdruck auf. Selbstwert und Selbstachtung hängen maßgeblich davon ab, dass sie von Menschen, die uns wichtig sind oder Vorbildfunktion haben, deren Meinung und Kritik für uns von Belang sind und die emotional mit uns eng verbunden sind, aufgebaut, bestätigt und gefestigt werden.

Hören wir in der Kindheit, in der Jugend, beim Älterwerden immer nur, dass wir zu diesem oder jenem eh nicht taugen, dann manifestiert sich diese Sicht auch in unserem Bewusstsein. „Du kannst das eh nicht!“ wird regelrecht zum Lebensthema, das uns nicht mehr von der Seite weicht. Die eigene Unfähigkeit ist als unumstößliche Tatsache ins Hirn eingebrannt, und dieses Brandmal lässt sich kaum mehr tilgen. Aber wir können schon in jungen Jahren daran arbeiten, dass es blasser wird.

Nicht alles ist falsch Natürlich geht es nicht darum, dass Eltern ihre Kinder niemals kritisieren sollten. Im Gegenteil, Erziehung bedeutet ja nicht, dass alles, was die Kleinen tun und lassen, gutgeheißen und gelobt werden muss. Ein bisschen Strenge und vor allem Konsequenz schaden keinem. Das Leben, sei es privat wie beruflich, – und das lernen wir alle erst im Laufe der Zeit – besteht zu einem großen Teil aus „Nein“ und „Sie nicht!“, was jedes Mal Enttäuschung und persönliche Zurücksetzung bedeutet. Das Umgehen mit solchen Situationen beizubringen und richtig einzuordnen ist die Aufgabe der Eltern, die mit positiver Motivation, mit Einfühlungsvermögen, mit Liebe und Verständnis dafür sorgen sollten, dass sich für die Zukunft keine bedrohlichen Lebensthemen aufbauen.

Das schlechte Gewissen Jeder Mensch hat irgendein Lebensthema. Die meisten wissen gar nicht, dass da etwas aus der Vergangenheit in ihnen arbeitet. Denn schließlich „bin ich doch erwachsen“ und „ich habe mein Leben im Griff!“ Da glaubt man doch nicht an so einen „Kinderkram“. Tja, sollte man aber. Zum Beispiel entwickeln viele Menschen allmählich einen unbedingten Helferwillen, sie wollen immer für andere da sein, stets zur Verfügung stehen, wenn Bedarf ist. Dabei merken sie jedoch nicht, dass im Lauf der Jahre die Kraft für die eigenen Belange vollkommen auf der Strecke bleibt. Irgendwann bekommen sie die Quittung dafür: körperliche und seelische Ermattung, vielleicht sogar Burnout.

Stellen Sie sich mal vor, der Hintergrund mag ein Vorwurf Ihres Vaters gewesen sein: „Für Dich lege ich mich krumm, wahrscheinlich werde ich sogar krank, ich habe gearbeitet wie ein Stier, damit aus Dir mal was Gescheites wird. Ich hätte auch Ingenieur werden können, wenn Du nicht gekommen wärest. Und Du? Was machst Du? Du trittst das alles mit Füßen. Du bist undankbar!“ Rums!!! Ein lebenslanges schlechtes Gewissen ist vorprogrammiert, weil Sie ja eine Belastung für andere sind. Irgendwann wollen Sie immer mehr für andere tun, damit ja niemand mehr böse auf Sie ist, damit Sie nie wieder solch grässliche Vorwürfe zu hören bekommen und damit Sie sich Ihre Existenzberechtigung erst einmal verdienen. Da hat der Vater ganze Arbeit geleistet!

Es gibt einige „wichtige“ Lebensthemen Nichtexistenz zum Beispiel: „Es gibt für mich keine Existenzberechtigung, und daher muss ich alles tun, damit ich gebraucht werde, auch wenn es meine ganze Energie kostet.“ Oder unwichtig sein: „Egal, was ich mache, niemand schätzt das Ergebnis. Und wenn dann doch mal jemand ein Lob ausspricht, kann ich das nicht annehmen, weil er doch nur Mitleid hat oder weil ich das Lob eh nicht verdient habe.“ Oder aber ausgeschlossen sein: „Ich gehöre nicht dazu, ich störe und bin nur eine Belastung.“

Genauso wie Erfolglosigkeit: „Ich schaffe es nie, an meine privaten und beruflichen Ziele zu kommen. Zwar geht es manchmal gut los, aber dann läuft doch wieder alles schief. Und wenn es mir doch mal gut geht, finde ich es schlimm, dass es anderen genau dann nicht so gut geht.“ Und unnormal sein: Ich weiß, dass ich etwas ganz Besonderes bin, daher erwarte ich Respekt und ununterbrochene Anerkennung. Wehe, ich bekomme die nicht!“ Oder fehlende Selbstfürsorge: „Hauptsache, ich mache es anderen recht. Deren Wünsche und Bedürfnisse sind wichtiger als meine.“

Oder aber Unzufriedenheit: „Ich müsste mehr aus mir rausholen. Das Ergebnis ist zwar ok, aber da ist mehr drin. Ich muss das schaffen!“ Und dann das unerwachsen sein: Übertriebene Anpassung und unangemessene Rebellion treten – oft in Verbindung mit Verantwortungsscheu und schlechtem Durchsetzungsvermögen – häufig auf und äußern sich im Idealisieren oder Dominieren eines Partners. Oder bloß kein Ärger: „Ich bin wohl schuld, dass sich meine Eltern nach den vielen Streits getrennt haben. Völlige Scheu vor Aggression und Konflikten wirken sich daher bei mir so aus, dass ich mich nicht abgrenzen oder etwas einfordern möchte.“ Es gibt noch zahlreiche andere „Standard“-Lebensthemen. Im Grunde genauso viele, wie es Menschen gibt. Allen ist gleich, dass der Grundstein ganz früh im Elternhaus gelegt wurde.

Die Lebenszwickmühle Einige Jahre haben Sie doch schon hinter sich. Jetzt noch anfangen, in den Untiefen der eigenen Psyche herumzustochern? Wer weiß, welche Abgründe sich da noch auftun?! Lebt man da nicht lieber so weiter wie bisher? Das kommt darauf an, wie stark dieses Lebensthema Ihren Alltag bestimmt. Manches gehört einfach zur eigenen Persönlichkeit. Gehandelt werden sollte aber dann, wenn sich daraus erwachsende Probleme spürbar auf andere oder einen selbst auswirken, sodass das Ganze ungesund wird. Das eigene Lebensthema zu erkennen, es anzupacken und im Interesse einer zufriedeneren Zukunft damit umzugehen lernen, ist eine Herausforderung, die viele Menschen nicht alleine bewältigen können. Dazu bedarf es professioneller Unterstützung. Zu guter Letzt bleibt es natürlich jedem selbst überlassen, sich „seinen Dämonen“ zu stellen. Wichtig ist jedoch, dass dieser Prozess mit großer Achtsamkeit und in Ruhe stattfinden muss.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 12/2021 ab Seite 104.

Wolfram Glatzel, freier Journalist

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