Ein Mann sitzt im abgedunkelten Schlafzimmer auf dem Boden, mit dem Rücken ans Bett gelehnt und blickt verzweifelt an die Decke.© CandyRetriever / iStock / Getty Images Plus
Für Depressionen soll ein Serotoninmangel im Hirn verantwortlich sein. Stimmt das nicht, müssten wir bei Antidepressiva wohl umdenken.

Serotonin-Hypothese

UMDENKEN BEI DEPRESSION – URSACHEN DOCH UNKLAR

Aktuell vermuten wir, dass der körperliche Auslöser für Depressionen ein Serotoninmangel im Gehirn sei. Das Wirkprinzip von Antidepressiva beruht darauf, diesen Mangel auszugleichen. Doch neue Erkenntnisse widersprechen der Serotonin-Hypothese.

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Was ist die Serotonin-Hypothese?Sie besagt, im Gehirn Depressiver herrsche ein sogenanntes chemisches Ungleichgewicht, ein Mangel am Glücksgefühle vermittelnden Neurotransmitter Serotonin. Entsprechend würden Arzneimittel, die die Serotoninkonzentration im synaptischen Spalt erhöhen, die Neurotransmitter-Balance wiederherstellen und so die Stimmung aufhellen. Doch wie kam man auf den Gedanken?

  1. In den 50er Jahren bemerkten Ärzte, dass das Tuberkulose-Mittel Iproniazid als angenehme Nebenwirkung ihren Patienten bessere Laune bescherte. Iproniazid ist ein Monoaminooxidase-(MAO-)Hemmer, blockiert also den Abbau von Noradrenalin, Serotonin und Dopamin und erhöht so ihre Konzentration.
  2. Zeitgleich stellte man fest, dass auch Imipramin antidepressiv wirkt; es hemmt die Wiederaufnahme der Neurotransmitter in die Präsynapse und erhöht so ebenfalls deren Konzentration.
  3. Außerdem hatten zwei sowjetische Wissenschaftler entdeckt, dass in der Hirnflüssigkeit einiger depressiver Menschen weniger 5-Hydroxyindolylessigsäure (ein Abbauprodukt des Serotonins) vorkam als bei Gesunden.
  4. Dass ein Serotoninmangel ursächlich für Depressionen sei, würde alle drei Phänomene erklären. So stellten die beiden Wissenschaftler 1969 die Serotonin-Hypothese auf.

Ärztliche Leitlinie zweifelt Serotonin-Hypothese an.

Die frisch überarbeitete S3-Leitlinie „Unipolare Depression“ blickt kritisch auf die Serotonin-Hypothese. Sie könne nicht erklären, warum nur ein Teil der Patienten auf Antidepressiva anspricht und auch nur zeitlich verzögert. Vermutlich steckten weitere, noch unbekannte Mechanismen hinter einer Depression.

Mehr noch: „Auf Grundlage einer sehr kritischen Bewertung der methodischen Limitationen der Antidepressiva-Studien stellen einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die klinische Bedeutung von Antidepressiva infrage“, schreiben die Leitlinien-Autoren. Damit nehmen sie Bezug auf eine englische Übersichtsstudie.

Umbrella-Review bietet Überblick über weitere Serotonin-Studien

Für diese im Fachjournal „Molecular Psychiatry“ erschienene Arbeit hat Professor Dr. Joanna Moncrieff vom University College London bisherige Studien zu Serotonin und Depressionen gesammelt, verglichen und neu bewertet. Das ernüchternde Ergebnis: Messungen von Serotonin und seinen Abbauprodukten ergäben keinen Unterschied zwischen Gesunden und Menschen mit Depression.

  • Die Serotonin-Aktivität am Rezeptor sei in einigen Studien bei beiden Gruppen vergleichbar, in manchen sogar bei depressiven Patienten höher.
  • Es gebe keinen genetischen Zusammenhang zwischen Depressionen und dem Serotoninrezeptor.
  • Die Aktivität des Serotonintransporters, an dem selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wirken, sei bei beiden Gruppen gleich oder sogar bei Menschen mit Depression höher, allerdings hatten einige von ihnen zum Messzeitpunkt bereits SSRI eingenommen.
  • Ein künstlich erzeugter Serotoninmangel löst keine Depression aus, außer in einer kleinen Studie an familiär vorbelasteten Probanden.

Daraus folgert Moncrieff, es sei an der Zeit, anzuerkennen, dass die Serotonin-Hyothese empirisch nicht belegt sei. Sie habe trotz immenser Forschungsanstrengungen nicht überzeugend bewiesen werden können. Die Wirkung von Antidepressiva, sofern vorhanden, gehe auf den Placeboeffekt zurück oder auf allgemein emotional dämpfende Effekte.

Was sagen andere Experten?

Professor Dr. Gitte Moos Knudsen, Neurobiolin an der Universität Kopenhagen, widerspricht im Detail: Der Irrtum sei nicht, dass Serotonin Depressionen auslöse, sondern dass es eine einzige biochemische Ursache für die Krankheit gebe. Man geht aktuell davon aus, dass es mehrere verschiedene Erkrankungen (mit unterschiedlichen Ursachen) gebe, die sich in depressiven Symptome äußern.

Dr. Michael Bloomfield vom University College London, der allerdings nicht an Moncrieffs Arbeit beteiligt war, erklärt, dass die Serotonin-Hypothese schon lange angezweifelt wurde: „Ich habe wohl noch nie einen seriösen Forscher getroffen, der glaubt, dass jede Form der Depression auf einem einfachen Ungleichgewicht von Serotonin beruht.“

Was bedeutet das für die Therapie mit Antidepressiva?

Die ärztliche Leitlinie hält fest, dass die Wirkung von Antidepressiva „zu Teilen auf Placebo- und unspezifische Effekte zurückzuführen und die Wirkungsdifferenz zu Placebo eher klein ist.“ Dennoch sei die Anwendung berechtigt, müsse aber immer in ein Gesamtkonzept mit Psychotherapie und psychosozialen Interventionen integriert sein.

Wie steht es um Antidepressiva in Deutschland, wem nutzen sie?
2018 wurden Antidepressiva-Mengen für rund 4,7 Millionen Menschen verordnet. Nicht bei allen wirken sie, und bei der Hälfte derer, die eine Wirkung spüren, ist diese nur leicht. Bei leichten Verläufen raten die Leitlinien von einer Pharmakotherapie ab. Dysthymie-Betroffene, mit einer schwächer ausgeprägten, aber chronisch verlaufenden Depression, sprechen hingegen auf Antidepressiva besonders gut an, besser als auf Psychotherapie.

Quellen:
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/die-serotonin-hypothese-wackelt-134512/seite/alle/
https://www.spektrum.de/news/depression-mythos-serotonin-mangel/1798331

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