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Kolumne | Prof. Dr. Aglaja Stirn

MENTALISIERUNG

Das Konzept der Mentalisierung beschreibt bestimmte psychische Fähigkeiten, die fast jeder von uns mehr oder weniger ausgeprägt besitzt. Es hat etwas mit den Wechselwirkungen zwischen Menschen und ihrem Verhalten zu tun.

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Der Begriff wurde 1990 von Peter Fonagy und Mary Target eingeführt. Man versteht unter Mentalisierung, dass mentale Zustände in der eigenen Person wie auch in anderen Menschen für einen zugänglich sind. Konkret bedeutet es, dass man die psychische und mentale Befindlichkeit des anderen versteht.

So kann man sich in seine Wünsche, Motive, Überzeugungen, Ziele oder auch Gefühle hineinversetzen, auch wenn sie vielleicht nicht mit der unmittelbaren äußeren Realität übereinstimmen. Anders ausgedrückt bedeutet Mentalisieren, sich auf die inneren Zustände in sich selbst und im anderen beziehen und reflektierend darüber nachdenken zu können. Das Konzept der Mentalisierung wird im weitesten Sinne der Theory of Mind zugeordnet, hat jedoch eine stärkere Betonung der affektiven Aspekte.

Theory of Mind ist ein Fachbegriff in der Psychologie und steht für das Vermögen, mentale Zustände als mögliche Ursache eines bestimmten Verhaltens zu verstehen. Damit kann man eigene oder fremde Handlungen erklären und vorhersagen. Für das menschliche Zusammenleben ist dies eine unerlässliche Fähigkeit. Mangelnde Mentalisierungsfähigkeit wird teilweise mit psychosomatischen Störungen in Zusammenhang gebracht. Im täglichen Leben und vor allem in der Kommunikation ist es wichtig, dass man die inneren Zustände des Gegenübers und in einem selbst gut interpretieren kann.

Besonders unter Stress und in Belastungssituationen kann diese Fähigkeit aber eingeschränkt sein. Dadurch können Missverständnisse entstehen, man fühlt sich vielleicht falsch verstanden, heftige Gefühle brausen auf und man reagiert mit Rückzug, Feindseligkeit oder kontrollierendem Verhalten. Mentalisierung bedeutet auch, soziale Situationen besser zu verstehen und vorherzusagen. Es ist eine kognitive und affektive Leistung. Heute weiß man, dass die Mentalisierungsfähigkeit auch mit der Bindungsstruktur zu tun hat.

Durch Forschung ließ sich zeigen, dass sicher gebundene Kinder später zumeist eine bessere Mentalisierungsfähigkeit besitzen. Die Fähigkeit zu Mentalisieren entsteht bereits im Säuglingsalter durch Prozesse der emotionalen Spiegelung zwischen dem Säugling und seinen primären Bezugspersonen. Es ist auch bekannt, dass unsicher gebundene Kinder als Erwachsene leichter in Bindungsstress geraten. Wir wissen, dass Stress verschiedene Hirnprozesse beeinflussen kann. Entsteht so ein Stress, werden die mentalen Prozesse heruntergefahren oder reguliert.

Das heißt, dass die Reflexionsfunktionen abnehmen und der Mensch weniger auf reifere Ich-Funktionen zurückgreifen kann. So kann es vorkommen, dass die Person unter Stress, sei es durch einen Streit in der Familie, mit dem Partner oder in einer Prüfung, nicht mehr die volle Mentalisierungsfähigkeit besitzt und Dinge tut oder sagt, die den anderen verletzen und später bereut werden. Unter starkem emotionalem Stress kann es daher zu Handlungen kommen, die sonst nicht passieren würden. Je besser Sie Ihre eigenen Gefühle und die Gefühle des anderen mit ihren Absichten, Wünschen, Überzeugungen und Motiven verstehen, umso besser können Sie mentalisieren.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 04/2022 auf Seite 12.

Professor Dr. Aglaja Stirn
ist Direktorin des Instituts für Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Gruppentherapie, Psychoanalyse und Sexualtherapie an der Universität Kiel, Zentrum für Integrative Psychiatrie ZIP.
​​​​​​​www.zip-kiel.de​​​​​​​

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