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Bücher, von denen man spricht

JETZT NOCH NICHT

Der Journalist Martin Simons ist 44 Jahre alt, als ihm an einem Dezembernachmittag auf der Straße plötzlich die Kontrolle über seinen Körper entgleitet. Im Krankenhaus erfährt er: Er hat eine Hirnblutung erlitten.

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Jetzt, beinahe zwei Jahre danach, ist ihm etwas sehr Seltenes gelungen: Er hat über die Todes- nähe, in der er sich damals befand, ein Buch voller Poesie geschrieben, voller Sachlichkeit und Klarheit, voll nüchterner Schönheit. „Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon“ erzählt die Geschichte einer inneren Wandlung. Simons nennt es: „Meine inneren Kontinente gerieten in Bewegung.“

Erklären, was unerklärlich ist Das Besondere an diesem Buch ist auch, dass Simons keine religiösen Erklärungsversuche startet: Er berichtet einfach von dem, was ist. Ordnet es ein in seinen Wertekanon und findet Worte für das, was eigentlich unerklärlich ist. Überlässt es dem Leser selbst zu einem Urteil zu gelangen – oder zu erkennen, dass es besser ist, nicht zu urteilen. Ausgerechnet mit einer Meditationsübung hatte alles angefangen. Ein Freund hat ihn darauf gebracht, dass dies der Arbeit eines künstlerisch tätigen Menschen förderlich sein könnte.

Da die transzendentale Meditation im Wesentlichen darauf abzielt, die eigenen Gedanken zum Schweigen zu bringen, praktiziert er vier Monate lang zweimal am Tag seine Übungen. „Gedanken“, sagt Simons, „sind überhaupt nicht schwerelos und flüchtig, sondern im Gegenteil hart und stofflich. Sie kamen mir wie Felsbrocken vor, die ich mit dem Vorschlaghammer des stetig wiederholten Mantras zertrümmern musste.“ Ein paarmal erlebt er es, das meditative Schweben. „Sobald mein letzter Gedanke zu feinem Staub zerbröselte und kein anderer an seine Stelle trat, war es, als fiele ich hinterrücks durch eine durchlässige Wand in einen dem Weltall ähnlichen Raum, in dem keine Grenzen existierten, schon gar nicht meine eigenen.“

Drei Sätze, Dutzende Rechtschreibfehler Während er diesen Zustand anstrebt, kommt ihm eine Idee für einen Text, den er gerade schreibt. Er bricht die Übung ab, eilt an den Laptop, schreibt drei Sätze und vertippt sich dabei viele Dutzend Mal. Irritiert versucht er einen Spaziergang, auf dem ihm schlimme Ahnungen kommen: Etwas in seinem Kopf ist bedrohlich anders, und die Ärzte im Krankenhaus eröffnen ihm, dass er nun 48 Stunden ganz still liegen muss, die Blutung in seinem Kopf sei wie ein Ausschalter: Sollte der Finger auch nur zucken, wäre es mit ihm vorbei. Martin Simons, der nie mehr als einen Schnupfen hatte, ist nun sterbenskrank und in Todesnähe.

Auf der Intensivstation, den Körper verkabelt und an piepsenden Geräten hängend, entgleitet er in die andere Welt: „Es war, als ginge in meiner Brust ein Raum auf, und ich bekam einen tieferen Atem. Meine Angst, meine Sorgen, fielen von mir ab. Ich erfuhr eine Wahrheit, die so schlicht wie paradox war. Ich liebte meine Frau, mein Kind, im Großen und Ganzen das Leben selbst. Aber ich schien an nichts davon unbedingt zu hängen. Ich wusste das, was ich schon immer gewusst hatte, nur nicht auf diese einfach, klare, seltsam schöne Weise. Es gab nur die Gewissheit, es konnte in jedem Moment vorbei sein. Vor mir lag unkartiertes Gelände.“ Erinnerungen fluten sein Hirn, von längst vergessen geglaubten Kindheitserinnerungen. Er „badet über Stunden innerlich in aus dem Unterbewusstsein aufsteigenden Bildern.“ Er erfährt etwas Geheimnisvolles, eine Gewissheit, die er nie für möglich gehalten hat: Diese Bilder würden bleiben, „selbst wenn ich heute Nacht sterbe, weil sie außerhalb von meinem Körper sind.“

Bewusstsein vs. Materie Martin Simons hat die Hirnblutung überlebt, sonst hätte er das Buch nicht schreiben können. Manchmal kommt beim Lesen der Gedanke, er überlebte, um das Buch zu schreiben. Immer wieder taucht bei ihm die Idee auf, seine Erkrankung könnte etwas mit der Meditation zu tun haben. Vielleicht, so sagt der Autor, sei die Annahme falsch, wonach das Gehirn die Hardware sei, auf der die Software des Bewusstseins laufe. Simons zitiert Wissenschaftler, die sagen, man könne sich die Welt vielmehr als eine Struktur bewusster Erfahrungen vorstellen: Dann sei der tiefste Grund der Wirklichkeit geistig und nicht materiell.

Falls dieses zuträfe, könnten Meditationen sehr wohl Hirnblutungen verursachen. Er trägt diesen Gedanken während seiner zahllosen Untersuchungen den Ärzten vor. Die schrecken zurück, äußern sich nicht, wissen nicht, was sie meinen sollen. Keiner möchte eine offizielle Aussage dazu machen. Und dann erwischt er einen in dem großen Krankenhaus, der neben seinem Bett sitzt und mit ihm die Ergebnisse des MRT bespricht. Er sieht den Autor nicht an, als er ihm auf die Frage antwortet, ob er an seiner Stelle weiter meditieren solle. „Wahrscheinlich nicht. Ich bin zwar Arzt, aber ich weiß nicht, was dabei im Hirn passiert.“

Die Familie kommt Simons sortiert sich neu. An Heiligabend kommt auch die erweitere Familie an sein Bett: Entsetzt und hilflos sehen sie auf den Sohn, Ehemann, Bruder und Schwager, der die Seinen eher missmutig willkommen heißt und dem sein eigenes Verhalten ganz schnell leid tut. Er tröstet die Mutter auf dem Krankenhausflur und erkennt das Geheimnis der Elternschaft: Ihre Liebe zu ihm bestand „aus etwas Tieferem als Gefühlen. Selbst dann, wenn ich ihr menschlich völlig fremd geworden wäre und sie mich sogar nicht mehr ausstehen könnte, gäbe sie mich nicht auf. Einfach weil ich ihr Kind war.“

Es kommt der Moment im Krankenhaus, da er beinahe stirbt. „Es war die allerseltsamste Erfahrung. Ich hatte das Gefühl, als würden Nähte zwischen meinen Schädelplatten aufgehen, und das, was ich für mein Ich hielt, strömte aus meinem Kopf heraus. Ich war in allen Dingen.“ Simons drückt den Notknopf am Bett. Niemand kommt. Seine eigene Reaktion ist merkwürdig: „Ich konnte es nicht fassen, dass tatsächlich niemand auf meinen Notruf reagiert hatte, war aber nicht empört.“

Verfeinerte Intuitivität Ein Jahr nach diesem Erlebnis zieht der Autor Bilanz. Er spürt sie, diese neue Lebendigkeit, ein neues, intuitives Wissen über die Beziehungen zwischen Menschen und die Menschen an sich. Und doch weiß er: „Es ist zum Wahnsinnigwerden, wie verletzlich wir waren. Der Tod war ein ebenso erbarmungsloser wie unfehlbarer Killer, der immer bereit, nie weit entfernt war.“ In dieser Nacht, in der er ein Resümee zieht, liegt er mit seinem kleinen Sohn und seiner Frau im Bett und hört beide leise atmen. „Je länger ich schaute, desto klarer wurde mir: Es gab zwischen ihrem sicheren Tod und meiner absoluten Liebe für sie einen Zusammenhang.“ Irgendwann, so denkt er, werde das aufhören. Jetzt aber, da schläft er dazu ein.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 10/19 ab Seite 124.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

Martin Simons: Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon. – Roman, gebunden mit Schutzumschlag, 186 Seiten. Aufbau Verlag, ISBN 978-3-351-03788-8, 20 Euro

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