Depressionen und Angststörungen
PTA-Fortbildung

Ängste und Depressionen verstehen und behandeln

Trauer und Angst sind zwar zwei unterschiedliche Emotionen. Depressionen und Angststörungen treten aber häufig gemeinsam auf oder es entwickelt sich die eine psychische Erkrankung aus der anderen. Welche Berührungspunkte haben Sie in der Apotheke?

21 Minuten

Antidepressiva nicht erste Wahl

Medikamente werden bei leichten depressiven Episoden nicht zur Erstbehandlung empfohlen. Die Leitlinie betont, dass Patienten mit leichtem Beschwerdebild weniger von Antidepressiva profitieren, vielmehr begrenzen Neben- und Wechselwirkungen ihren Einsatz. Leitliniengemäß sind hingegen niedrigschwellige Versorgungsangebote, worunter eine angeleitete Selbsthilfe, eine hausärztliche Grundversorgung sowie eine psychotherapeutische Basisbehandlung (z. B. Beratungsgespräche) verstanden werden.

Zudem verweist die Leitlinie auf Online-Programme wie die neu aufgenommenen digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zertifiziert sind. Dabei handelt es sich um Apps, die zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden können. Sie bieten Hintergrundwissen, Stimmungstagebücher oder basieren auf Elementen der kognitiven Verhaltenstherapie.

Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) bei Depressionen

Derzeit sind im DiGA-Verzeichnis zwei Anwendungen dauerhaft für die Therapie von Depressionen aufgenommen: „deprexis“ und „Selfapys Online-Kurs bei Depression“. Weitere sind zunächst nur vorläufig aufgenommen, beispielsweise „edupression.com®“, „elona therapy Depression“, „My7steps App“ oder „Novego: Depression bewältigen“.

Selbst bei wiederkehrenden leichten Episoden oder mittelschweren Depressionen stehen keine Medikamente an erster Stelle, sondern eine Psychotherapie. Sollten die Patienten auf eine psychotherapeutische Intervention nicht ausreichend ansprechen, kann die Gabe eines Antidepressivums zusätzlich erfolgen.

Ebenso sollen bei schweren Depressionen beide Ansätze kombiniert werden. Die Psychotherapie erhält damit einen höheren Stellenwert als eine medikamentöse Behandlung, obgleich Antidepressiva als klinisch relevant gelten. Zusätzlich – unabhängig vom Schweregrad der Depression – empfiehlt die Leitlinie begleitende Maßnahmen wie beispielsweise Bewegungsprogramme, ernährungsbasierte Interventionen oder eine Lichttherapie. Als wichtig erachtet sie auch, Angehörige in die Behandlung mit einzubinden.

Häufig verordnete Substanzklassen

Wird eine medikamentöse Behandlung als notwendig erachtet, kann der Arzt unter einer großen Zahl an Substanzen das geeignete Antidepressivum für seinen Patienten wählen. Fast alle Antidepressiva zielen auf die intrasynaptische Erhöhung von Serotonin und/oder Noradrenalin ab, auch wenn sie unterschiedlichen Klassen zugeordnet werden. Am häufigsten werden im ambulanten Bereich Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) wie zum Beispiel

  • Citalopram,
  • Escitalopram,
  • Fluoxetin,
  • Paroxetin verordnet.

Sie hemmen die Rückaufnahme von Serotonin aus dem synaptischen Spalt. Sie werden auch als Reuptake-Hemmer bezeichnet. Über das gleiche Wirkprinzip verfügen die Selektiven Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSNRI) wie zum Beispiel

  • Venlafaxin oder
  • Duloxetin,

wobei sie nicht nur die selektive Rückaufnahme von Serotonin, sondern zusätzlich auch von Noradrenalin aus dem synaptischen Spalt unterbinden. Auch Tri- und Tetrazyklische Antidepressiva (TZA) wie

  • Amitriptylin,
  • Clomipramin,
  • Doxepin oder
  • Imipramin

sind Reuptake-Hemmer, die in unterschiedlichem Ausmaß die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin aus dem synaptischen Spalt hemmen. Zu einer vermehrten Freisetzung von Serotonin und Noradrenalin führen Alpha-2-Rezeptor-Antagonisten wie

  • Mirtazapin und
  • Mianserin.

Sie wirken über eine Blockade von Alpha-2-Rezeptoren, welche die Freisetzung von Serotonin und Noradrenalin in den synaptischen Spalt bremsen. Damit erhöhen sie ebenfalls die intrasynaptische Konzentration von Serotonin und Noradrenalin. Monoaminooxidase-Inhibitoren (MAO-Hemmer) wie

  • Moclobemid und
  • Tranylcypromin

blockieren wiederum die Wirkung der Monoaminoxidase. Damit hemmen sie den Abbau von Neurotransmittern wie Serotonin, Noradrenalin und Dopamin.

Typische Nebenwirkungen

Die verschiedenen Substanzklassen gehen mit typischen Nebenwirkungen einher. Bei den SSRI treten häufig Kopfschmerzen und Übelkeit auf. Zudem können sie bei Therapiebeginn zunächst Symptome der Depression verstärken (z. B. Schlafprobleme, Unruhe). 

Ähnliche Nebenwirkungen sind auch bei den SSNRI möglich. Zudem kann es zu einer Blutdruckerhöhung kommen. Außerdem können bei beiden Substanzklassen sexuelle Dysfunktionen auftreten. Da TZA unspezifisch an verschiedenen zentralen und peripheren Rezeptoren angreifen, treten bei ihnen eine Vielzahl an unerwünschten Wirkungen auf. Besonders häufig sind anticholinerge (z. B. Mundtrockenheit), histaminerge (z. B. Gewichtszunahme, Sedierung) sowie kardiovaskuläre Nebenwirkungen. 

Ebenso lösen Alpha-2-Rezeptor-Antagonisten deutliche antihistaminerge Wirkungen wie Sedierung und Gewichtssteigerung aus.

Weitere Antidepressiva

Zu den eher selten verordneten Substanzen zählen beispielsweise noch Bupropion, ein selektiver Wiederaufnahmehemmer von Dopamin und Noradrenalin (SNDRI). Er erhöht die Konzentration dieser beiden Neurotransmitter im synaptischen Spalt. 

Trazodon ist ein Antagonist an Serotonin-2-Rezeptoren (5HT2-Rezeptoren), der in höherer Dosierung zusätzlich als Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer wirkt. Ferner wirkt die Substanz ebenfalls schwach als Alpha-2-Rezeptor-Antagonist sowie blockierend auf Histamin-1-Rezeptoren. Ebenfalls ist Agomelatin wie Trazodon ein Serotonin-5-HT2C-Rezeptor-Antagonist. Dieser hat außerdem agonistische Effekte auf Melatonin-Rezeptoren (MT1/MT2) und damit auch schlafregulierende Eigenschaften. Als pflanzliche Alternative führt die Leitlinie zudem Johanniskraut auf.

Johanniskraut bei Depressionen 

Johanniskraut kann eine Option bei einer leichten oder mittelschweren Depression sein. Als Wirkmechanismus wird eine Wiederaufnahmehemmung verschiedener Neurotransmitter wie Noradrenalin und Serotonin aus dem synaptischen Spalt angenommen. Damit wirkt Johanniskraut ähnlich wie synthetische SSRI oder TZA. Für die Wirkung ist das Zusammenspiel mehrerer Inhaltsstoffe des Gesamtextraktes entscheidend, wobei sich vor allem für den Hauptwirkstoff Hyperforin eine antidepressive Wirkung nachweisen ließ. Bei der Abgabe eines Johanniskraut-Präparates dürfen folgende Hinweise nicht fehlen: 

+ Die Wirkung setzt erst nach circa zwei bis vier Wochen ein. 
+ Eine gemeinsame Einnahme mit weiteren chemischen Antidepressiva sollte unterbleiben.
+ Da Johanniskraut ebenso wie diese die Konzentration von Serotonin im synaptischen Spalt erhöht und damit eine verstärkte zentrale und periphere Serotonin-Wirkung auslöst, ist ein Serotonin-Syndrom möglich. Dies äußert sich in Symptomen wie Durchfall, Fieber, schneller Puls, Schwitzen, Verwirrung, Zittern sowie Muskelzuckungen und kann einen lebensbedrohlichen Verlauf nehmen. 
+ Zu beachten ist zudem das hohe Wechselwirkungspotenzial von Johanniskraut. Substanzen, die über gleiche Enzymsysteme (CYP-Enzyme) in der Leber verstoffwechselt werden (z. B. orale Kontrazeptiva), können schneller metabolisiert werden, was absinkende Wirkstoffspiegel der Komedikation zur Folge hat. 
+ Weiterhin ist eine erhöhte Lichtempfindlichkeit der Haut unter Johanniskrauteinnahme möglich, wobei der fotosensibilisierende Effekt nur bei intensiver Sonneneinstrahlung und wiederholter Gaben sehr hoher Extrakt-Konzentrationen einsetzen soll. Tagesdosierungen von bis zu 900 mg Extrakt werden als unproblematisch angesehen.

Neu in die Leitlinie aufgenommen ist Esketamin, ein Nasenspray, das erst seit 2020 verfügbar ist. Wegen schwerer Nebenwirkungen und seines Suchtpotenzials wird es ausschließlich zur Behandlung therapieresistenter Depressionen im Rahmen akuter psychiatrischer Notfälle im stationären Umfeld eingesetzt.

Das S-Enantiomer von Ketamin blockiert den N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor (NMDAR), wodurch es die Glutamatfreisetzung hemmt. Damit beeinflusst die Substanz binnen weniger Stunden direkt die Emotionsregulation im Gehirn, was sich positiv auf Stress, Stimmungsstörungen und Depressionen auswirkt.

Individuelle Auswahl eines Antidepressivums

Bei der Wahl des Antidepressivums steht nicht die therapeutische Wirksamkeit im Vordergrund, zumal diese bei den verschiedenen Wirkstoffen beziehungsweise Substanzklassen als annähernd gleich angesehen wird. Vielmehr sollen unter anderem das

  • Sicherheits- und Interaktionsprofil,
  • die Präferenz des Patienten sowie
  • die Erfahrung des Behandelnden berücksichtigt werden.

Damit nimmt die Einstellung des Patienten zum möglichen Wirkstoff einen zentralen Stellenwert bei der Substanzwahl ein. Die Frage ist, ob der Betroffene beispielsweise gewillt ist, potenzielle sexuelle Funktionsstörungen, eine unerwünschte Gewichtszunahme oder erforderliche Blutentnahmen in Kauf zu nehmen.

Ebenso können unerwünschte Wechselwirkungen mit der bestehenden Medikation des Patienten (z. B. CYP-Interaktionen) oder ein denkbares Suizidrisiko den Einsatz bestimmter Substanzen einschränken. Letztendlich muss der Behandler auch abwägen, ob er für die Therapie mit dem betreffenden Medikament die nötige Erfahrung hat.

Therapeutisches Vorgehen

In der Regel wird das Medikament zu Anfang in einer niedrigen Dosis genommen, die dann zügig erhöht wird (Aufdosierungsphase). Die Wirkung lässt häufig länger auf sich warten. Meist setzt sie mit einer Latenz von etwa zwei Wochen ein. Ein Wirkeintritt sollte aber nach drei bis vier Wochen nach Erreichen der Zieldosis spürbar sein. Spricht der Betroffene auf die Medikation an, wird sie in gleicher Dosierung sechs bis zwölf Monate weitergeführt (Erhaltungstherapie). Danach wird das Antidepressivum langsam über einen Zeitraum von zwei bis drei Monaten schrittweise abgesetzt. Wird die Behandlung zu früh beendet, besteht ein erhöhtes Risiko für einen Rückfall.

Während der Ausschleichphase können Absetzsymptome auftreten, die teilweise einer Depression ähneln (z. B. Kopfschmerzen, Schwindel, Schlafstörungen, Unruhe) und über die der Betroffene unbedingt vorab informiert sein sollte. Auch ist es möglich, dass eine Depression wiederkommt (depressives Rezidiv, Rebound-Depression). Damit der Arzt adäquat auf potenzielle Absetzsymptome reagieren kann, bestellt er in der Regel seinen Patienten während des Ausschleichprozesses regelmäßig in seine Praxis ein. Nicht immer spricht der Patient auf das zuerst verschriebene Medikament richtig an.

Ein Wechsel auf eine andere Substanz oder eine Kombinationstherapie können notwendig werden. Konkrete Handlungsempfehlungen findet der Arzt in der Leitlinie. Dazu gehört

  • der Einsatz einer begleitenden Psychotherapie,
  • zur Wirkungsverstärkung (Augmentation) die zusätzliche Gabe eines primär nicht antidepressiv wirkenden Wirkstoffes wie Lithium oder eines Antipsychotikums (z. B. das atypische Neuroleptikum Quetiapin),
  • die Kombination mit einem zweiten Antidepressivum (z. B. SSRI plus Bupropion oder SNRI plus Mirtazapin) sowie
  • der Wechsel auf ein anderes Antidepressivum aus einer anderen Wirkstoffklasse.

Antidepressiva müssen einschleichend aufdosiert, lange genug eingenommen und schließlich langsam schrittweise abgesetzt werden.

Was kann die Apotheke tun?

Nicht nur der Arzt, auch das Apothekenpersonal ist ein wichtiger Ansprechpartner für Betroffene. Die aktuelle NVL bindet die Apotheken ausdrücklich bei Nichtansprechen der Medikation ein, da PTA und Apotheker die medikamentöse Behandlung Compliance-fördernd begleiten können.

Die Information des Betroffenen über Wirkweise und Nutzen der Medikamente kann ebenso wie die Empfehlung, Tablettenboxen oder verblisterte Tabletten einzusetzen, zur regelmäßigen Einnahme motivieren und damit zum Therapieerfolg beitragen. Auch lassen sich im Beratungsgespräch Ängste der Kunden, von den Medikamenten abhängig zu werden oder mit einer Persönlichkeitsveränderung zu reagieren, aus dem Weg räumen.

In einem eigenen Kapitel „Apothekerische Versorgung“ nimmt die Leitlinie die Apotheken als ein niedrigschwelliges Versorgungsangebot noch einmal explizit bei der Versorgung depressiver Patienten in die Verantwortung. Vor allem profitieren Betroffene, die regelmäßig dieselbe Apotheke aufsuchen. Das Apothekenpersonal kennt diese Kunden und kann bei ihnen unter Umständen Hinweise auf depressive Störungen und Krisen wahrnehmen. PTA und Apotheker können das Gespräch mit den Betroffenen suchen und entsprechend beraten.

Dazu zählt, ihnen Möglichkeiten der Unterstützung aufzuzeigen und sie einer ärztlichen oder psychotherapeutischen Behandlung zuzuführen. Besonders hellhörig sollte das Apothekenpersonal beispielsweise bei wiederholten Selbstmedikationswünschen nach

  • Johanniskraut,
  • Sedativa,
  • Hypnotika oder
  • Analgetika sein.

Die Leitlinie führt weiter aus, dass auch das Auftreten der Betroffenen, entsprechende Äußerungen, typische somatische Symptome oder diffuse Beschwerden wie Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, Schlafstörungen oder Konzentrationsschwäche Anzeichen dafür sein können, dass der Kunde an einer Depression leidet.

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