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Bücher, von denen man spricht

WIE KRANKHEITEN GESCHICHTE MACHEN

Wie anders wäre die Weltgeschichte verlaufen, hätten nicht einige der mächtigsten Männer und Frauen unter Krankheiten gelitten, die ihnen den Tod brachten? Dieser Frage geht der Arzt und Historiker Ronald Gerste nach.

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Die Dame „was in child“, also guter Hoffnung – glaubte sie zumindest. Sie war nicht irgend- wer, sondern Mary Tudor, Königin von England, und verheiratet mit einem Mann, der eine ebensolche Machtfülle besaß wie sie selbst: nämlich dem spanischen König Philipp II. Für Geschichtsinteressierte: Mary I. war die älteste Tochter von Heinrich dem Achten, derjenige mit den sechs Ehefrauen, und die gute Nachricht wurde im Jahr 1554 verkündet.

Spanien wäre heute Weltmacht Was die Ehe und einen möglichen Nachfolger so brisant machte: Im Reich Britanniens tobte ein Krieg der Konfessionen. Ihr Vater hatte sich ja, aufgrund seiner häufigen, von der katholischen Kirche nicht autorisierten Scheidungen beziehungsweise Enthauptungen, kurzerhand selbst zum Chef seiner eigenen Kirche gemacht. Das geschah allerdings erst nach der Geburt Marys – die war somit noch katholisch. Zusammen mit ihrem sie an Fanatismus noch übertreffenden Gatten hegte sie den Traum zweier katholischer Weltreiche und wer weiß, welchen Verlauf die Geschichte genommen hätte, wäre ihre Schwangerschaft Wirklichkeit gewesen. So aber machte sich mit Anzeichen des vorzeitigen Milchflusses und einer Umfangsvergrößerung der Brust und des Leibes ein Tumor bemerkbar. Nach allem, was die Wissenschaft heute weiß, reimt man sich Folgendes zusammen: Die Geschwulst, das Prolaktinom, saß in der Hypophyse, der Hirnanhangsdrüse der Königin, und produzierte das Hormon Prolaktin.

Kennzeichen sind das Ausbleiben der Monatsblutung (Amenorrhoe) und Galaktorrhoe (Absonderung von Milch aus der weiblichen Brust), Kopfschmerzen und Sehstörungen, unter denen Mary ebenfalls litt. Für die damalige Medizin war es eine unmöglich zu stellende Diagnose. Die Scheinschwangerschaft verstrich natürlich, ohne dass zum vorausberechneten Geburtstermin ein Prinz das Licht der Welt erblickte, was für die Königin sehr demütigend gewesen sein muss und woraufhin sie noch unberechenbarer und grausamer in der Verfolgung Andersgläubiger wurde, was ihr den Beinamen „Bloody Mary“ einbrachte. Als die Königin schließlich an ihrer Krankheit starb, ebnete sie den Weg für ihre Schwester Elizabeth I., die für ihre Zeit eine erstaunlich liberale Haltung gegenüber Glaubensfragen einnahm und selbst protestantisch war. Ihr genügte es, wenn Katholiken einmal die Woche in die „andere“ Kirche gingen. Heinrichs zweitälteste Tochter stand England 45 Jahre lang vor, und ihre Regentschaft wurde später als das „Goldene Zeitalter“ bezeichnet.

Das verkalkte Genie Lenin Der Autor Ronald D. Gerste, selbst Arzt und studierter Historiker, geht der sehr interessanten Was-wäre-gewesen-wenn-Frage nach und durch ihn erleben wir einen Streifzug durch Krankheiten, die zu Recht als Geißel Europas bezeichnet werden können: die Pest, die Syphilis, die Tuberkulose, die Pocken. Der schwedische König Gustav Adolf III. verlor wegen seiner überaus starken Kurzsichtigkeit mitten im Getümmel einer wichtigen Schlacht die Orientierung und war ein leichtes Opfer seiner Gegner. Wladimir Iljitsch Lenin litt an so starker Arteriosklerose, dass das „Gehirn der Weltrevolution“ dermaßen verkalkt war, dass er von seinem Nachfolger Stalin nach Belieben ideologisch missbraucht werden konnte.

Der deutsche Politiker Friedrich Ebert hätte wahrscheinlich der Weimarer Republik einen anderen Verlauf beschert, wäre er nicht an einer missglückten Blinddarmoperation gestorben. Und da Franklin D. Roosevelt bei der Konferenz von Jalta bereits ein todkranker Mann war, verlief auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf amerikanischer Seite ganz anders, als wenn er am Leben geblieben wäre. Kennt ihn noch jemand, den 99-Tage-Kaiser Friedrich III., der nur kurz zwischen Wilhelm I. und Wilhelm II. das Deutsche Reich regierte, und zwar im Jahr 1888? Er stellte einen Hoffnungsträger der Liberalen im Lande dar, denn er war ein Anhänger des britischen Parlamentarismus – kein Wunder bei seiner Ehefrau, der ältesten Tochter der englischen Queen Victoria. Ihr Vater, ein deutscher Prinz, hatte ihr in vielen Gesprächen die Vorzüge seiner Wahlheimat Großbritannien deutlich gemacht.

Der Thronfolger hat Kehlkopfkrebs Doch ach, schon der junge Prinz rauchte leidenschaftlich gern Pfeife und Zigarre. Das galt damals sogar als gesund, schließlich konnte man dabei komfortabel das Gewicht in Schach halten und die „Asthmazigarette“ sollte sogar gegen die gleichnamige Krankheit wirken. Die karzinogene Wirkung der in Tabakprodukten enthaltenen Gifte wurde erst später entdeckt. Zuerst litt Friedrich unter Heiserkeit, dann unter Husten, der einfach nicht verschwinden wollte. 1887 schließlich ließ sich nicht mehr leugnen, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, und es wurden Koryphäen aus der Berliner Charité zu Rate gezogen (unter anderem Rudolf Virchow).

Friedrich musste sich schrecklichen Torturen unterziehen: Der damals noch neuen Kehlkopfspiegelung, dann mehrere Versuche der Ärzte, den vermeintlich gutartigen Polypen auf dem Stimmband mit einer Drahtschlinge abzutragen, später ein Ausglühen der immer wieder nachwachsenden Geschwulst. Keiner wagte es, die schreckliche Nachricht offen auszusprechen, vielleicht wollte man es auch einfach nicht glauben: Der Thronfolger hatte Kehlkopfkrebs. Wie aggressiv jener war, sollte sich bald herausstellen: Beim Tod des Vaters trug Friedrich bereits eine Kanüle in der Luftröhre, da der Tumor ihm das Atmen verwehrte. Unter unsäglichem Leid starb er vor den Augen der Öffentlichkeit.

Wie anders hätte das Land, in dem wir leben, ausgesehen, wenn er so lange am Leben geblieben wäre wie sein Vater? Wäre dann vielleicht sogar der Erste Weltkrieg vermeidbar gewesen, fragt Gerste? So aber kam sein Sohn an die Macht: „Wilhelm II. stand für Großmäuligkeit und Chauvinismus und letztlich für eine entscheidende Rolle – als Handelnder, aber auch als Getriebener – auf dem Weg in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, das unsägliche Massensterben des Ersten Weltkrieges. Angesichts dieser Bilanz kann man sich fast sicher sein: Unter Friedrich III. wäre es – auf welche Art auch immer – anders gekommen. Und besser.“

Pest und Cholera Krankheiten, so lernen wir bei der Lektüre des Buches, bestimmten immer auch das Leben, die Kultur und das Bewusstsein der Völker. Die schwarze Beulenpest, Aids und Syphilis haben ganze Zeitalter geprägt. Noch 1892 zog eine Cholera-Epidemie durch Hamburg, an der 17 000 Menschen erkrankten, 8600 starben. Erst Robert Koch machte der Seuche ein Ende, indem er mit Fäkalien verunreinigtes Trinkwasser in einem Viertel mit armer Bevölkerung als Verursacher ausmachte, ein Hygienekonzept entwarf und den Stadtvätern gehörig die Wacht ansagte und mit seinem Satz: „Meine Herren, ich vergesse, dass ich in Europa lebe!“.

So ganz nebenbei kann man mit diesen gut 300 Seiten auch sein Geschichtswissen aufbessern. Schließlich sind Zahlen und Fakten viel besser zu merken, wenn man weiß, dass John F. Kennedy, der jüngste Präsident der Vereinigten Staaten, sowohl an der Addisonschen Krankheit als auch an Sexsucht litt, als er 1963 von einem Attentäter erschossen wurde. Francois Mitterand, französischer Staatspräsident vor Jaques Chirac, verheimlichte seinen Prostatakrebs so lange, bis er 1996 an ihm starb. Und da die lange Amtszeit des Franklin Delano Roosevelt der Öffentlichkeit das Schauspiel eines über Monate kranken und sich im Amt dabei verzehrenden Präsidenten offenbarte, hatte dies danach verfassungsrechtliche Konsequenzen: Keine zwei Jahre nach dessen Tod wurde ein Verfassungszusatz eingebracht, der die Amtszeit eines amerikanischen Präsidenten künftig auf maximal acht Jahre begrenzt.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 10/2020 ab Seite 126.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

Ronald D. Gerste „Wie Krankheiten Geschichte machen“, gebunden mit Schutzumschlag, mit Abbildungen. Klett-Cotta, 304 Seiten, 20 Euro. ISBN 978-3-608-96400-4

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