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Unsere Sinne

SYNÄSTHESIE

Farben schmecken oder Töne sehen – bei dieser besonderen Art der Wahrnehmung ruft die Reizung eines Sinnesorgans die Mitempfindung in einem anderen hervor – ob die Betroffenen wollen oder nicht.

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Das ist ein tiefes Violett, ich bitte, sich danach zu richten! Nicht so rosa! – Diese Worte soll Franz Liszt bei einer Probe zu Orchestermusikern gesagt haben. Wissenschaftler entnehmen dem Zitat, dass der Komponist Synästhetiker war.

Es ist allerdings eher unwahrscheinlich, dass die Angesprochenen mit dieser Anweisung viel anfangen konnten, da nur wenige Menschen diese außergewöhnliche Wahrnehmungsform haben. Und selbst wenn sich weitere Synästhetiker unter den Musikern befunden haben sollten, wäre Liszts Ansage für sie möglicherweise schwierig umzusetzen gewesen, da synästhetische Wahrnehmungen vielfältig und individuell unterschiedlichsind.

Mannigfaltige Formen Bei Menschen, die über Synästhesie verfügen, führt die Stimulation eines Sinnesorgans, in diesem Beispiel des Ohrs, nicht nur dazu, dass sie die Töne hören, sondern sie nehmen sie auch in einer weiteren Sinnesmodalität wahr – etwa als Farbe. Obwohl das Phänomen schon seit einigen hundert Jahren bekannt ist, steckt seine Erforschung noch in den Anfängen. Schon darüber, wie viele Menschen über synästhetische Wahrnehmung verfügen, gehen die Schätzungen weit auseinander – sie reichen von einer von 25 bis zu einer von 2000 Personen.

Sicher ist: Töne sehen zu können ist nur eine von zahlreichen verschiedenen Ausprägungen der Synästhesie. Für viele Synästhetiker haben beispielsweise Zahlen und/oder Buchstaben bestimmte Farben. Wissenschaftler sprechen in diesem Fall von einer Graphem-Farb-Synästhesie. Manche Synästhetiker können aber auch Farben schmecken, Buchstaben fühlen oder Bilder hören. Den möglichen Kombinationen der einzelnen Sinne scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein – das Wort Synästhesie besteht aus den griechischen Worten „syn“ für zusammen und „aisthesis“ für Empfindung.

Viele synästhetisch veranlagte Menschen empfinden diese Kopplung der Sinne als Bereicherung und möchten sie nicht missen. Man sagt, dass Synästhetiker überdurchschnittlich kreativ sind, auch Hochbegabung kommt bei ihnen häufiger vor. Viele sind zu außergewöhnlichen Gedächtnisleistungen fähig, vielleicht weil sie sich Dinge aufgrund ihrer weiteren Eigenschaften besser merken können. Auf der anderen Seite gibt es Berichte, dass die multiplen Sinneseindrücke manchmal auch überfordern können.

Typische Charakteristika Die zusätzlichen Wahrnehmungen treten automatisch und zuverlässig immer dann auf, wenn der auslösende Reiz wahrgenommen wird – Synästhetiker können sie nicht unterdrücken oder willentlich hervorrufen. In der Regel verändert sich die synästhetische Wahrnehmung nicht: Betroffene geben an, dass sie die Dinge schon immer so wahrgenommen haben. Viele haben erst im Laufe ihrer Kindheit oder Jugend gemerkt, dass andere Menschen die Welt anders erleben. Wissenschaftler gehen davon aus, dass einer hohen Dunkelziffer gar nicht bewusst ist, dass sie synästhetische Wahrnehmungen haben. Da oftmals mehrere Familienmitglieder betroffen sind, nimmt man an, dass eine genetische Komponente existieren muss.

Wie entsteht Synästhesie? Dies weiß man noch nicht. Normalerweise werden etwa die Rezeptoren der Netzhaut durch visuelle Reize erregt. Über den Sehnerv gelangen die Nervensignale über Schaltstellen im Gehirn zum Sehzentrum , wo sie zu einer visuellen Wahrnehmung verarbeitet werden. Akustische Reize dagegen stimulieren die Sinneszellen im Ohr, werden von dort über den Hörnerv ins Gehirn geleitet und dort im Hörzentrum prozessiert.

Typischerweise geschieht dies getrennt nach Modalitäten: Bilder können wir sehen und Töne hören. Man geht aber davon aus, dass bei allen Menschen die Verarbeitungszentren aller Sinne im Gehirn in gewissem Umfang miteinander verknüpft sind. So entsteht aus einer Reihe einzelner Reize wie Form, Farbe, Bewegung und Klang – beispielsweise bei einer Unterhaltung mit einem Gesprächspartner oder beim Schauen eines Films – eine einheitliche Wahrnehmung. Wissenschaftler bezeichnen dies als „Binding“.

»Bei Synästhetikern kommt es zu einer Kopplung der Sinnesempfindungen.«

Bei Synästhetikern kommt es zu einer Kopplung der Sinnesempfindungen: Sie können zum Beispiel die Töne auch sehen. Manche nehmen die Farbe im Raum in ihrer unmittelbaren Umgebung wahr, bei anderen existiert sie innerhalb ihres Körpers vor ihrem inneren Auge. Einige sehen farbige Formen. Meist sind es zwei, in seltenen Fällen auch drei Sinne, die miteinander gekoppelt sind.

Neuronale Grundlagen Eine wichtige Rolle bei der Erforschung der Synästhesie spielen bildgebende Verfahren. So lassen sich die Struktur des Gehirns und somit auch anatomische Besonderheiten etwa mit der Magnetresonanztomografie (MRT) untersuchen und darstellen. Die funktionelle MRT erlaubt es zu verfolgen, welche Areale des Gehirns in einer bestimmten Situation aktiv sind, wie beim beim Hören von Musik. Mit einer speziellen Variante, dem Diffusion Tensor Imaging (DTI), lassen sich Verbindungen zwischen einzelnen Hirnregionen aufspüren.

Einig sind sich die Forscher darüber, dass es bei Synästhetikern eine besondere neuronale Verbindung zwischen den Zentren im Gehirn geben muss, in denen die verknüpften Sinne verarbeitet werden. Ein Erklärungsansatz besagt, dass es bei ihnen zu einem verstärkten „Binding“ an Stellen kommt, an denen es üblicherweise nicht stattfindet – Wissenschaftler sprechen von „Hyper-binding“. Manche Forscher vermuten, dass das limbische System in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielt und eine so genannte „limbische Brücke“ bildet.

Zudem gibt es Hinweise darauf, dass die einzelnen Verarbeitungszentren im Gehirn normalerweise auch deshalb getrennt voneinander arbeiten, weil bestimmte Nervenzellen in ihrer Aktivität gehemmt werden. Es könnte daher möglich sein, dass diese Hemmung bei Synästhetikern eingeschränkt oder anders verläuft und die Sinne deshalb stärker verknüpft sind.

Wann und wie die besonderen Verbindungen zwischen den Sinnen entstehen, ist unklar. Manche Wissenschaftler vermuten, dass die bei Synästhetikern gefundene Kopplung bei allen Menschen angelegt ist und sich nach der Geburt bei der Mehrheit aber wieder zurückbildet. Für die Forscher ist die Synästhesie nicht nur aufgrund des faszinierenden Phänomens an sich interessant. Sie erhoffen sich von ihren Ergebnissen auch Rückschlüsse darüber, wie die „normale“ Wahrnehmung funktioniert.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 02/14 ab Seite 142.

Dr. Anne Benckendorff, Medizinjournalistin

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