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Nervosität

STÄNDIG UNTER STROM

Viele Kunden kommen mit nervösen Unruhezuständen und daraus resultierenden Schlafstörungen in die Apotheke und suchen den Rat des Apothekers und der PTA – noch bevor sie zum Arzt gehen.

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Nervosität gehört zu den Symptomen der modernen Gesellschaft. Obwohl die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Verlauf der Jahre immer komfortabler und besser geworden sind und die Menschen weniger als je zuvor arbeiten, fühlen sich viele zunehmend gereizt und belastet, wenn nicht gar überfordert. Das klingt im ersten Moment paradox doch die Ursachen für den steigenden Druck sind vielfältig.

Vor allem die geänderten Arbeitsbedingungen fordern ihren Tribut: Beschäftigte müssen mobil sein, flexibler ihre Arbeitszeit gestalten, in kürzerer Zeit mehr Aufgaben erledigen, sich immer schneller neuen Anforderungen stellen und immer erreichbar sein. Viele Arbeitnehmer unterliegen zudem noch einer Mehrbelastung, da sie ihre ganze Kraft nicht nur dem Job, sondern der Familie, den Kindern und eventuell noch pflegebedürftigen Eltern widmen müssen. Kein Wunder, dass heute so viele Menschen gestresst sind. Die moderne Welt ist zum Stressor geworden. Die natürliche Balance zwischen Anspannung und Entspannung ist aus dem Gleichgewicht geraten. Die Folge sind innere Unruhe, Nervosität und Schlafstörungen.

Gefährlicher Teufelskreis Nervöser Unruhe am Tag folgen meist Schlafstörungen in der Nacht. Wer tagsüber unter Nervosität leidet, hat abends oft Probleme mit dem Einschlafen. Unerledigte Aufgaben und unbewältigte Konflikte lassen die Gedanken ständig kreisen. Betroffene sinnieren stundenlang, ohne eine Lösung für ihre schwierige Situation zu finden. Endlich eingeschlafen wachen viele mehrmals in der Nacht wieder auf und beginnen erneut mit dem Grübeln.

Doch schlaflose Nächte führen tagsüber wieder zu vermehrter Nervosität und zur Erschöpfung, da die notwendige Regeneration des Organismus über Nacht ausgeblieben ist und Körperzellen und Gehirn ihre Energiereserven nicht ausreichend auffüllen konnten. Ein Kreislauf aus innerer Unruhe, Nervosität und Schlafstörungen entsteht, bei dem sich die einzelnen Symptome immer weiter gegenseitig verstärken.

Helfen Sie Ihrem Kunden, aus dem gefährlichen Teufelskreis rechtzeitig auszubrechen. Gezielter Stressabbau, bewusste Entspannung, optimale Schlafbedingen sowie der Einsatz wirkungsvoller Präparate gehören zu den wichtigen Maßnahmen, dem Stress und seinen seelischen und körperlichen Folgen entgegenzusteuern.

Stress Prinzipiell hat Stress eine wichtige Funktion im menschlichen Organismus und ist nicht schädlich. Stress ist eine lebenswichtige Funktion, die den Körper in Alarm- und Fluchtbereitschaft versetzt, um vor Gefahren zu bewahren. In einer bedrohlichen Situation setzt er einen raffinierten Mechanismus in Gang, durch den der Körper in kurzer Zeit alle seine Reserven mobilisiert und zu Höchstleistungen befähigt wird. Damit ist er zum Kampf oder für die Flucht bereit – zumindest ist dies der evolutionäre Sinn von akutem Stress. Heute stellen wilde Tiere keine akute Gefahr mehr dar, aber die gleichen Mechanismen laufen auch beim modernen Menschen in den unterschiedlichsten Situationen ab.

Akuter Stress Bewertet das Gehirn einen Auslöser als bedrohlich, starten gleichzeitig zwei Reaktionsketten. Zum einen gehen Nervensignale an die Nebenniere, die daraufhin die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin ausschüttet. Die im Nebennierenmark gebildeten Katecholamine steigern blitzschnell die Herzleistung über eine Erhöhung der Herzfrequenz und bewirken einen Blutdruckanstieg. Zudem verbessern sie die Muskeldurchblutung und stellen den Muskeln ausreichend Energie zur Verfügung, indem sie gespeicherte Energie wie Fett und Glykogen mobilisieren und die Glukoseaufnahme in die Körperzellen unterstützen.

»Stress hat prinzipiell eine wichtige Funktion im Körper und ist nicht schädlich.«

Gleichzeitig bremsen beide Hormone Funktionssysteme wie den Verdauungstrakt oder die Denkleistung des Gehirns. Etwas zeitverzögert schüttet der Hypothalamus das Kortikotropin- Releasing-Hormon aus, das über das Adrenokortikotrope Hormon (ACTH) der Hypophyse eine Freisetzung von Kortisol aus der Nebennierenrinde veranlasst. Dieses Stresshormon unterstützt die akute Stressreaktion und beendet sie wenig später über einen Rückkopplungsmechanismus. Damit wird die Erholungsphase eingeleitet. Die körperliche Reaktionsbereitschaft wird heruntergefahren und die Körperfunktionen werden wieder in ihren Normalzustand versetzt.

Chronischer Stress Hält die Belastung und damit die Stressreaktion länger an, wird die Rückkopplung gestört und die Stressreaktion verselbstständigt sich. Die Folge ist eine fortlaufende Ausschüttung von Kortisol, die im Organismus schwerwiegende Probleme nach sich ziehen kann. Dazu gehören beispielsweise eine erhöhte Infektanfälligkeit, die Entwicklung chronischer Entzündungen, Kopf- und Rückenschmerzen, Magen-Darm-Krankheiten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zur Auslösung eines Herzinfarktes oder Schlaganfalles sowie Krebserkrankungen.

Aber auch psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen sowie ein erhöhtes Risiko für einen Burnout sind stressassoziierte Reaktionen. Erste Warnsignale für chronischen Stress sind unspezifisch: Belastbarkeit, Konzentration und Leistungsfähigkeit lassen nach. Nervosität, innere Unruhe und Schlaflosigkeit stellen sich ein.

Wege aus dem Stress Im physiologischen Stressgeschehen folgt auf Anspannung immer Entspannung. Entspannung ist quasi die Gegenreaktion auf den Stress, die den Organismus mit seinen diffizil aufeinander abgestimmten Reaktionen wieder in seine normalen Bahnen lenkt. Gerät dieser Wechsel aus der Balance, muss von außen für ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Anspannung und Entspannung gesorgt werden. Mit adäquaten Methoden zur Stressbewältigung gelingt es, die Spannung der Muskulatur und den Blutdruck zu senken. Ebenso können Präparate aus der Selbstmedikation dazu beitragen, stressbedingte Unruhe und Nervosität zu mildern sowie Schlafstörungen zu beheben.

Entspannung und Sport Mitunter reichen schon Massagen, warme Bäder, gute Musik oder produktive Beschäftigungen wie Gärtnern, Basteln oder Kochen, um hinreichend zu entspannen. Oftmals sind spezielle Entspannungsverfahren wie beispielsweise Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training oder meditative Verfahren (z. B. Yoga, Tai-Chi und Qigong) für eine gezielte Entspannung notwendig. Ein Vorteil dieser Methoden ist die Vereinigung von Bewegung mit innerer Einkehr. Zudem erlebt der Anwender bei ihrem Einsatz ein Gefühl der Kontrolle.

SYNTHETISCHE MITTEL
Antihistaminika wie Diphenylhydramin oder Doxylamin sollten bei Schlafstörungen nur kurzfristig eingesetzt werden. Sie stehen zwar für eine maximale Anwendung von zwei Wochen zur Therapie von Ein- und Durchschlafstörungen rezeptfrei zur Verfügung. Ihre Nachteile sind aber vielfältig. Bei langfristigem Gebrauch verändern sie die Schlafphasen. Werden sie erst mitten in der Nacht genommen, sodass weniger als acht Stunden Schlaf folgen, besteht die Gefahr eines Hangovers mit verzögerter Reaktionsbereitschaft am nächsten Tag. Außerdem können sie zu Mundtrockenheit, Verstopfung sowie Harnverhalt führen. Bei Prostatahyperplasie und grünem Star sind sie kontraindiziert und daher für Personen über 65 Jahren meist nicht geeignet.

Er spürt, dass er dem Stress nicht hilflos ausgeliefert ist, sondern in die Lage versetzt wird, sich bewusst entspannen zu können, was sich wiederum positiv auf die belastende Situation auswirkt. Ebenso ist Bewegung stressmindernd. Es hilft, sowohl mehr moderate Bewegung in den Alltag zu integrieren (z. B. auf den Fahrstuhl zu verzichten, kleine Strecken zu Fuß gehen, eine Runde um den Block gehen) als auch intensive Trainingseinheiten mit schweißtreibenden sportlichen Aktivitäten einzuplanen.

Welche Sportart ausgeübt wird, ist nicht entscheidend. Wichtig ist vor allem, dass die Bewegung Spaß macht. Nur Dinge, die Freude bereiten, werden gerne wiederholt. Zudem stellt Freude eine wichtige Voraussetzung für Entspannung dar und trägt an sich schon entscheidend zur Entspannung bei. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass die Belastung vor allem zu Anfang nicht zu hoch gewählt wird und Ruhephasen mit den Sporteinheiten abwechseln.

Für erholsame Nächte sorgen Neben gezielter Entspannung und ausreichender Bewegung sorgt auch eine optimale Schlafhygiene für eine gelassene Stimmung am Tag und erleichtert das Ein- und Durchschlafen am Abend und in der Nacht. Das Abendessen sollte aus leichter Kost bestehen und möglichst zwei Stunden vor dem Schlafengehen erfolgen. Auf den Genuss von Alkohol sollte dabei verzichtet werden. Schlaffördernd sind vielmehr eine Tasse beruhigender Tee (z. B. mit Melisse, Baldrian und Hopfen) oder ein Glas warme Milch. Abendliche Einschlafrituale wie das Lesen eines schönen Buches oder das Eintauchen in ein wohliges Bad stimmen auf die Nacht ein. Ebenso fördern die richtige Atmosphäre im Schlafzimmer wie die Zufuhr frischer Luft, kühle Temperaturen und ausreichende Dunkelheit die Schlafqualität.

Nervenaufreibende Fernsehsendungen, klingelnde Telefone oder ein laufender Computer stören hingegen eine angenehme Nachtruhe. Schlafexperten empfehlen zudem immer zur gleichen Zeit ins Bett zu gehen und aufzustehen – auch am Wochenende. Stellt sich der Schlaf aber nicht ein, sollte man lieber das Bett verlassen, als sich darin zu wälzen.

Pflanzliche Unterstützung Reichen die beschriebenen Verhaltensstrategien nicht aus, um für mehr Gelassenheit und Ruhe im Alltag zu sorgen und den Schlaf in der Nacht zu fördern, können Arzneimittel zum Einsatz kommen. Dabei bietet die Natur für Betroffene mit nervöser Unruhe Hilfe. Bewährt haben sich pflanzliche Präparate vor allem mit Baldrian, Hopfen, Melisse, Passionsblume und Lavendel. Tagsüber vermindern sie die nervöse Anspannung und wirken innerlich ausgleichend, ohne müde zu machen. Sie sind sehr gut verträglich und für die längere Anwendung geeignet, zumal es selbst bei längerfristigem Gebrauch nicht zur Gewöhnung oder Abhängigkeit kommt.

HOMÖOPATHISCHE HILFE
Eine gute Empfehlung bei Unruhezuständen und nervöser Schlaflosigkeit ist auch ein homöopathisches Komplexmittel aus den vier aufeinander abgestimmten Bestandteilen Passionsblume (Passiflora incarnata D2), Hafer (Avena sativa D2), Auszüge aus Kaffeesamen (Coffea arabica D12) und dem Zinksalz der Baldriansäure (Zincum isovalerianicum D4). Die Wirksamkeit des Präparates konnte in Studien bewiesen werden. Ebenso hat sich eine homöopathische Kombination aus Passionsblume (Passiflora incarnata D3), Baldrian (Valeriana D2), Platin (Platinum metallicum D8), Zinksalz der Baldriansäure (Zincum valerianicum D3), Tigerlilie (Lilium tigrinum D4), Ignatiusbohne (Ignatia D6), Frauenschuh (Cypripedium pubescens D3), Kockelskörnern (Cocculus D4) und Traubensilberkerze (Cimicifuga D2) bei nervösen Störungen wie Schlafstörungen und Unruhe bewährt.

Die beruhigenden Effekte fördern zudem die Schlafbereitschaft, sodass sie – selbst wenn sie tagsüber eingenommen werden - bewährte Einschlafhilfen darstellen. Bei den Baldrian-Präparaten muss man unterscheiden: Je nach Dosierung und Anwendungsempfehlung sind sie zur Behandlung von Unruhe und Nervosität oder von Schlafstörungen indiziert.

BaldrianExtrakte der Wurzel des Baldrians (Valeriana officinalis) werden schon seit Jahrhunderten bei Unruhezuständen und nervös bedingten Einschlafstörungen verwendet. Noch heute machen Baldrianpräparate den größten Anteil unter den pflanzlichen Beruhigungsund Schlafmitteln aus. Die Wirkung der Baldrianwurzel und ihrer Zubereitungen gilt als gut belegt. Als Wirkmechanismus wurde bislang vermutet, dass die Baldrianwurzel in den GABA-Regelkreis eingreift. GABA, der Neurotransmitter Gamma-Amino-Buttersäure, wirkt im Gehirn an dem Rezeptor, an dem auch Benzodiazepine andocken und zu Müdigkeit führen.

Inzwischen geht man allerdings davon aus, dass der Baldrianextrakt an den A1-Adenosinrezeptor bindet, also an den Rezeptor, an dem physiologischerweise das Ribonucleosid Adenosin angreift, welches für erholsamen Schlaf sorgt, sofern es eine gewisse Konzentration überschreitet. Als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe werden verschiedene Lignane angenommen.

Zusammenspiel Baldrianextrakte werden sowohl als Monopräparate als auch in fixen Zweifach- und Dreifachkombinationen angeboten. Bewährter Kombinationspartner ist ein Extrakt aus Johanniskraut oder Hopfenzapfen (Humulus lupulus), für den ein schlaffördernder Effekt nachgewiesen wurde. Zudem stellen Extrakte aus den Blättern von Melisse (Melissa officinalis) und dem Kraut der Passionsblume (Passiflora incarnata) wirksame Komponenten dar. Sie haben ebenso ihre Wirksamkeit bei nervösen Unruhezuständen und nervös bedingten Einschlafstörungen gezeigt. Johanniskraut hemmt die Wiederaufnahme von Serotonin, Adrenalin und Dopamin, macht gelassener und verhilft dadurch auch zu einem erholsamen Schlaf.

Lavendel Auch Lavendel hat eine lange Tradition als Arzneipflanze, die zur Beruhigung (vor allem bei ängstlicher Unruhe) eingesetzt wird. Wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe sind Linalylacetat und Linalool. Sie bewirken eine Beruhigung des übererregten Nervensystems, indem sie das Gleichgewicht zwischen erregenden und hemmenden Botenstoffen der Reizverarbeitung und Reizweiterleitung wiederherstellen. Vor allem drosseln sie den bei ängstlicher Unruhe vermehrten Einstrom von Kalzium in die Nervenendigungen und hemmen in der Folge die Ausschüttung erregender Neurotransmitter wie Serotonin und Noradrenalin. So wird die natürliche Reizfilterfunktion zwischen den Nervenzellen wieder verbessert und die Unruhe gemildert.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 03/15 ab Seite 58.

Gode Meyer-Chlond, Apothekerin

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