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Gendermedizin

SIE IST NICHT WIE ER

Adam wurde aus Lehm geschaffen, Eva aus Knochen, heißt es. Demnach wären ihre Körper völlig unterschiedlich zusammengesetzt. Und das sind sie tatsächlich, weiß die Forschung heute.

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Die amerikanische Kardiologin und Medizinwissenschaftlerin Marianne Legato ist bereits in den 1980er Jahren darauf gestoßen, dass Herzerkrankungen bei Frauen nicht genauso verlaufen wie bei Männern. In ihrem 2002 erschienen Buch „Evas Rippe“ beleuchtet sie das Ergebnis ihrer Forschung: Der weibliche Körper arbeitet in vielen Bereichen grundlegend anders, so unter anderem das Hirn, das Herz-Kreislauf-System, der Verdauungstrakt und das Immunsystem. Entsprechend wirken viele Medikamente bei den Geschlechtern verschieden. Auch die medizinische Behandlung weicht voneinander ab: Frauen gelten kulturell-gesellschaftlich als wehleidiger, körperliche Beschwerden werden öfter als psychosomatisch angesehen.

Dafür werden bei Männern psychologische Erkrankungen seltener und erst in fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert. Depressionen werden bei Männern nur halb so oft erkannt wie bei Frauen; oft werden zunächst rein körperliche Hintergründe vermutet. Bei der postoperativen psychologischen Betreuung manifestiert sich dies: Bei Brustkrebs ist die Therapie Bestandteil der Behandlung, bei Prostatakrebs nicht. Eine Ursache für die abweichende Studienlage ist sicherlich Schubladendenken, eine andere liegt in der Geschichte der Pharmaforschung begründet. Der Contergan-Skandal in den frühen 1960er Jahren hat Zulassungsverfahren für Arzneimittel grundsätzlich verändert. Nach der Einnahme durch Schwangere wiesen zahlreiche Neugeborene Missbildungen auf. Der Wirkstoff Thalidomid war vor der Erlaubnis zum Vertrieb lediglich an Nagetieren getestet worden.

Seither werden Medikamente vorab auch von Menschen probiert, dabei zunächst von Gesunden, um mögliche Nebenwirkungen aufzudecken. Da Frauen durch ihre hormonellen Zyklusschwankungen schwieriger zu beurteilen sind, wurden sie von diesen Studien allerdings systematisch ausgeschlossen. Bei weiblichen Probandinnen treten durchschnittlich anderthalbmal so viele unerwünschte Wirkungen auf wie bei männlichen – für Unternehmen ein Grund mehr, sie nicht in Untersuchungen einzubeziehen. Paradox, hatten ja frauenspezifische Nebenwirkungen erst zu Studien am Menschen geführt. Auch an den weiterführenden Studien an Erkrankten nahmen kaum Frauen teil, bis 1994 US-amerikanische Richtlinien dies erforderten. In der Krankheitsforschung zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. So ist erst seit Kurzem bekannt, dass viele Lehrmeinungen über Körperprozesse, Arzneimittelwirkungen und ihre Dosierung auf Frauen kaum zutreffen.

Eva-Infarkt Der Herzinfarkt ist ein erschreckendes Beispiel für unterschiedlich verlaufende Erkrankungen. Herren leiden unter starken, stechenden Brustschmerzen, die in den linken Arm ausstrahlen können – die Beschwerden sind so gravierend, dass man sie sofort als lebensbedrohlich erkennt. Bei Damen hingegen sind die Anzeichen diffus: Schwächegefühl, Kurzatmigkeit, Schwindel, Übelkeit und Schlafstörungen sind so unspezifisch, dass sie teilweise nicht einmal von Ärzten als Koronarereignis erkannt werden, selbst wenn die Betroffene medizinischen Rat sucht. Ärztinnen erkennen den Eva-Infarkt dabei sicherer als ihre männlichen Kollegen. Bei Frauen vergeht deshalb mehr Zeit, bis sie in eine Intensivstation eingewiesen werden, und es werden signifikant weniger Herzkatheter gesetzt. Obwohl Männer häufiger einen Herzinfarkt erleiden, versterben deshalb mehr Frauen daran.

Was bedeutet das?

Sex das biologische Geschlecht (genetisch, gonadal, genital)
Gender das gefühlte Geschlecht (psychisch, sozial)
intersexuell Das biologische Geschlecht ist uneindeutig.
transsexuell Das gefühlte unterscheidet sich vom biologischen Geschlecht.

Pharmakodynamik und -kinetik Eine Tablette benötigt für die Passage des Magen-Darm-Trakts bei Frauen doppelt so lange wie bei Männern. Die Zusammensetzung der Enzyme in der weiblichen Leber weicht von der männlichen ab und ihre Aktivität wird von Sexualhormonen gesteuert. Dies wirkt sich enorm auf den First-Pass-Effekt und die Eliminierung von Arzneistoffen aus. Außerdem haben Frauen einen höheren Körperfettanteil. So werden Acetylsalicylsäure, Paracetamol, Clofibrat und Phenprocoumon von Frauen ungefähr 30 bis 40 Prozent langsamer metabolisiert.

Metoprolol erzielt bei Frauen eine 40 Prozent höhere maximale Plasmakonzentration. Deshalb müssten geschlechterspezifische Dosisempfehlungen ermittelt werden. Für Zolpidem gibt es diese; Anwenderinnen sollen nur die Hälfte der üblichen Wirkstärke einnehmen. Für viele andere Arzneistoffe fehlen solche Hinweise aber. Auch bei den Nebenwirkungen fehlen angepasste Warnungen oft: Die Einnahme von Digoxin verkürzt die Lebenserwartung von Männern nicht, von Frauen schon, wie eine Studie 2002 zeigte.

Sex und GenderMit all diesen Themen sowie den biologischen und genetischen Ursachen beschäftigt sich die Gendermedizin. Diese Disziplin ist noch neu, in Deutschland gibt es nur eine einzige Forschungseinrichtung - das Institut Gender in Medicine der Charité Universitätsmedizin Berlin. Neben den Unterschieden zwischen Frau und Mann in der Diagnose und Therapie von Erkrankungen ist hier auch das Geschlecht selbst Gegenstand der Forschung. Dass die Einteilung „Mann oder Frau“ nicht immer eindeutig ist, wird klar, wenn man sich vor Augen hält, welche Kriterien bedacht werden müssen. Unser genetisches Geschlecht wird dadurch bestimmt, wie viele X-Chromosomen wir haben und ob auch ein Y-Chromosom dabei ist.

Das gonadale Geschlecht wird nach dem Vorhandensein von Hoden oder Eierstöcken festgelegt. Durch seltene Mutationen oder durch Fehler bei der Reifeteilung der Ei- oder Samenzellen der Eltern kann es schon hier zu Abweichungen kommen, beispielsweise beim Klinefelter-Syndrom. Das genitale Geschlecht wird anhand der äußeren Geschlechtsmerkmale festgelegt. Auch hier existieren Uneindeutigkeiten – so wurde 2009 diskutiert, ob die Langstreckenläuferin Caster Semenya ein Zwitter sei, ob sie weibliche Geschlechtsmerkmale und testosteronproduzierende, innenliegende Hoden habe. Das psychische Geschlecht entsteht durch die sexuelle Selbstidentifikation.

Unterscheidet das gefühlte Geschlecht sich von dem, das der Körper zeigt, spricht man von Transsexualität. Geschlechtsangleichungen sind heutzutage glücklicherweise möglich, denn das „Im-falschen-Körper-stecken“ stellt für Betroffene oft eine enorme Belastung dar. Das soziale Geschlecht schließlich ist die Rollenzuweisung von außen. Die Gendermedizin soll künftig interdisziplinär eingebunden werden, um Medizinern und Pharmazeuten aller Bereiche ihre Erkenntnisse zur Verfügung zu stellen. So dürfen wir auf eine bessere Versorgung von Frauen hoffen – ob als solche geboren oder nicht.

Den Artikel finden Sie auch in der Sonderausgabe Frauengesundheit der PTA IN DER APOTHEKE ab Seite 54.

Gesa Van Hecke, PTA/Redaktionsvolontärin

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