Die regelrechte Vermüllung des Wohnraumes, mit sogar teilweise Unrat, Essensresten oder Exkrementen, ist eine starke Ausprägung des Messie-Syndroms. © keladawy / iStock / Getty Images Plus

Psychische Erkrankungen

MESSIE-SYNDROM: EINFACH NUR UNORDENTLICH ODER DOCH KRANK?

Alte Zeitungen, leere Alu-Dosen und Glasflaschen – für die meisten mag dies nur eine Aufzählung von belanglosem Müll darstellen. Für Menschen mit Organisations-Defizit-Störung oder umgangssprachlich Messie-Syndrom haben diese Dinge häufig einen viel größeren, für andere nicht nachvollziehbaren Wert.

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Im März 1947 machten die Beamten der New Yorker Polizei eine ungewöhnliche Entdeckung: Sie fanden die Leichen zweier Brüder, Homer Lusk und Langley Collyer, umgeben von geschätzten 100 Tonnen Müll. Die Brüder galten zwar als Sonderlinge, waren aber ansonsten gesellschaftlich durchaus integriert. Bis zu ihrem Tod hatten sie unbemerkt eine zunehmende, exzessive Sammelleidenschaft entwickelt, vor allem von Papier, Büchern und Möbeln. Der Fall wurde exemplarisch bekannt für zwanghaftes Sammeln und der Unfähigkeit etwas wegzuwerfen – für ein Leben im Chaos.

Begrifflichkeiten
Die Bezeichnung „Messie“ wurde dann knapp 40 Jahre später von der selbst betroffenen US-amerikanischen Sonderschulpädagogin Sandra Felton eingeführt. Sie gründete eine Selbsthilfegruppe (Messies Anonymous), entwickelte ein Konzept, verfasste Ratgeber. Menschen, die sich selbst beziehungsweise ihre materielle Ordnung nicht organisieren können, sollten mit Ratschlägen und Austausch innerhalb der Selbsthilfegruppe unterstützt werden. Das Wort leitet sich dabei vom englischen Wort „mess“ ab, was so viel bedeutet wie Unrat, Unordnung, Durcheinander. Mit der Zeit schwappte das Wort auch nach Deutschland und etablierte sich dort in der Publikumspresse und im allgemeinen Sprachgebrauch – wobei „Messie“ eine abwertende Bedeutung innehat. Laut Duden beschreibt das Wort „jemanden, dessen Wohnung völlig unordentlich, chaotisch und voller nutzloser Gegenstände ist“.

Im englischen Sprachraum hat sich der Begriff übrigens nicht durchgesetzt. Dort spricht man von „hoarding“ oder „compulsive hoarding“, zwanghaftem Horten. Bislang suchte man das Messie-Syndrom noch vergeblich im internationalen Klassifizierungssystem. In der elften Version des ICD (International Classification of Diseases and Related Health Problems) findet sich die Störung jetzt gelistet unter 6B24, Hoarding disorder. In der noch ausstehenden deutschen Version könnte dies mit „pathologisches Horten“ übersetzt und aufgenommen werden, wodurch die Diagnose und gegebenenfalls auch eine spezifische Therapie abrechenbar werden. Bisher existieren vorwiegend Coachings oder öffentliche Beratungsangebote wie beispielsweise Selbsthilfegruppen. Betroffene können aber auch Hilfe in einer Verhaltenstherapie suchen, wo sie wie andere Menschen mit Zwangsstörung behandelt werden. Spezialisierte Psychologen, Psychotherapeuten oder Ärzte gibt es in Deutschland noch nicht flächendeckend, wissenschaftliche Untersuchungen und Studien haben in der Vergangenheit allerdings zugenommen.

Instinkt oder Störung?
Dabei ist uns Menschen als steinzeitliche Jäger und Sammler das Zusammentragen und Sammeln regelrecht angeboren. Fachleute sprechen sogar von einem Sammler-Instinkt, der, neurobiologisch gesehen, dem Hypothalamus im Zwischenhirn entspringt. Überschießende Sammelleidenschaft wird dann allerdings vom präfrontalen Kortex im vorderen Stirnhirn gehemmt beziehungsweise den herrschenden gesellschaftlichen Normen angepasst. Was unterscheidet jetzt aber Menschen, die horten, von Menschen mit Sammelleidenschaft? „Horter“ verlieren sich im Anhäufen von Gegenständen. Es fällt ihnen über einen anhaltenden Zeitraum schwer sich von ihren Sammelobjekten zu trennen, sie wegzuwerfen, zu verschenken oder zu recyceln – und das unabhängig von ihrem tatsächlichen Wert.

Die Dinge haben für sie eine eigene sentimentale, ästhetische oder nützliche Bedeutung. Auch die Angst durch das Entsorgen wichtige Informationen zu verlieren spielt bei manchen eine Rolle. Hobby-Sammler geben ihren Sammelobjekten zwar auch einen nicht immer für Außenstehende nachvollziehbaren Wert, sammeln aber mit Sinn und Struktur. Trotzdem können die Übergänge als fließend beschrieben werden. Nehmen die Gegenstände, etwa Zeitungen, Bücher, Möbel, Flaschen, Konservendosen, Kleidung oder Kinderspielzeug, immer mehr Wohnraum ein oder gesellen sich immer mehr benutzte Dinge oder Müll zu ihnen, spricht man auch vom Vermüllungssyndrom. Dabei kann dieser Zustand nach Dettmering und Pastenaci in drei Formen unterteilt werden: Die Person hortet nach System und es ist eine gewisse Ordnung, ähnlich einem Gangsystem durch die Räume, erkennbar oder die Wohnung ist chaotisch, gleicht einer Müllhalde und wichtige Gebrauchsgegenstände, wie etwa der Herd, können nur eingeschränkt benutzt werden oder aber die Wohnung ist unbewohnbar, es finden sich auch Essensreste, Urin und Exkremente. Trotzdem kann das Gesammelte nicht entsorgt werden, es wird bewusst behalten.

Zunehmend fallen diese Entscheidungen schwerer, Menschen mit Messie-Syndrom haben Probleme Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, können nur schwer planen. Zwar ist Betroffenen meist bewusst, dass sie im Chaos leben, oftmals drehen sich sogar alle Gedanken um das Chaos und den Anspruch endlich Ordnung zu schaffen. Aber eine Handlung folgt in der Regel nicht. Die Aufgabe scheint unlösbar, der Müllberg unüberwindbar. Marianne Bönigk-Schulz vom Förderverein zur Erforschung des Messie-Syndroms e.V. bezeichnete diese Diskrepanz zwischen eindeutig erkennbarer Unordnung und nicht folgender ordnenden Handlung gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt als „das innere Chaos, das sich nach außen zeigt. Es ist, als ob man blockiert und gelähmt auf einem Stuhl inmitten des Chaos sitzt und einfach nichts tun kann. Die Betroffenen leiden darunter, dass ihre Gedanken immer wieder um die Bewältigung der einfachsten täglich anfallenden Arbeiten kreisen, und sie erleben oft eine Hoffnungslosigkeit, dieses Problem jemals in den Griff zu bekommen.“ Das Anhäufen wird zur immer größer werdenden Belastung, nicht selten schotten sich Betroffene sozial ab. Die Scham, jemanden in das „chaotische Leben“ zu lassen ist oftmals zu groß. Zudem können viele Alltagsaktivitäten nicht mehr umgesetzt werden: Eine zugestellte Küche erschwert vielleicht das Zubereiten von Speisen, im Chaos verschollene Laufschuhe verhindern die Teilnahme am Lauftreff und so weiter. Nach Schätzungen von Selbsthilfegruppen leben in Deutschland ungefähr 2,5 Millionen Menschen mit Messie-Syndrom.

Sonderfall: Pathologisches Horten von Tieren
Das Messie-Syndrom kann sich auch auf spezielle Art und Weise zeigen: Und zwar durch das Ansammeln und Horten von Lebewesen. Meist leben eine Vielzahl von Tieren in Wohnräumen, die Mindestanforderungen an Haltungsstandards werden nicht eingehalten: Den Tieren mangelt es an Nahrung, Hygiene und tierärztlicher Versorgung. Auch wenn es den Tieren zusehends schlechter geht oder sie gar versterben, reagiert der Betroffene nicht und lebt stattdessen selbst unter immer schlimmer werdenden hygienischen Zuständen. Eine 2012 veröffentlichte Studie spricht von rund 620 Fällen von sogenanntem „Animal Hoarding“ in Deutschland, insgesamt seien jährlich mehr als 50 000 Tiere betroffen.

Was steckt dahinter?
Natürlich wacht man nicht morgens auf und beschließt ab sofort nichts mehr wegzuwerfen. Doch die Ursachen sind mannigfaltig: Psychisch bedingte Beeinträchtigungen, Begleiterkrankungen oder äußere Rahmenbedingungen können eine Rolle spielen. In den seltensten Fällen wenden sich Betroffene selbstständig an Hilfsangebote. Innerhalb einer psychotherapeutischen Hilfemaßnahme war es bislang am schwierigsten, das Messie-Syndrom als solches einzuordnen, galt es doch bis vor kurzem noch nicht als eigenständige Diagnose. Nach der aktuellen, fünften Ausgabe des DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) werden nun bewusst andere Krankheiten vor Diagnosestellung ausgeschlossen, die zu einer Messie-Symptomatik führen können. Zu dieser Differenzialdiagnostik zählt zum einen die Abklärung organischer Körperschäden wie zum Beispiel ein Hirntumor, ein Schädel-Hirn-Trauma oder eine Hirnhautentzündung. So könnte die regulatorische Funktion des präfrontalen Kortex eingeschränkt sein und die Sammelwut biologisch begründbar.

Auch kann das „Zumüllen“ der Wohnung den äußeren Umständen zugeschrieben werden. Wenn beispielsweise ältere Menschen körperlich nicht mehr in der Lage sind, Ordnung zu halten. Zudem könnte das Horten Symptom einer anderen psychischen Erkrankung sein. Die Anhäufung von Gegenständen wird häufig bei Menschen mit Depression, Schizophrenie, Zwangsstörung oder einer Autismus-Spektrum-Störung beobachtet. Die Krankheiten können aber auch nebeneinander auftreten – man merkt bereits, dass eine sichere Differenzialdiagnostik knifflig ist und in erfahrene Hände gehört. Als Risikofaktoren gelten einerseits genetische Veranlagung und Temperamentsfaktoren des Betroffenen, vor allem Unentschlossenheit in allen Handlungsweisen. Andererseits berichten Betroffene rückblickend häufig von traumatischen Erfahrungen oder Stressoren, die zum Auftreten des pathologischen Hortens beziehungsweise zu dessen Verschlechterung beigetragen haben. Zum Beispiel berichtete eine betroffene junge Frau gegenüber dem Online-Magazin jetzt.de gegenüber, dass sich das Messie-Syndrom bei ihr erstmalig nach einer traumatischen Fehlgeburt mit Gewalterfahrung und Verlust des Partners zeigte.

Veronika Schröter, Leiterin des Messie-Kompetenz-Zentrums in Stuttgart, erklärte zu diesem Fall: „Betroffene decken inneren Schmerz äußerlich mit gesammelten Gegenständen zu. Das seelische Leid wird so auf eine chaotische Wohnung übertragen. [Die Betroffene] wendet die Liebe, die sie eigentlich an ihr Kind wenden wollte, nun an Dinge als Beziehungsstellvertreter. Je höher sie stapelt, desto mehr Geborgenheit und Wärme geben die Dinge. Zumindest auf illusorischer Ebene zeigt sich dann: 'Es ist doch alles gar nicht so schlimm. Ich hab doch was.'“ Häufig wird Papier in Form von Zeitungen, Zeitschriften oder Büchern gehortet – auch dafür hat Frau Schröter einen Erklärungsansatz: „Messies sind oft vielseitig interessiert und versuchen, durch die Sammlung alles einzufangen, was lebendiges Leben beinhalten könnte. Sie schaffen sich so Erinnerungen an Momente, die sie eventuell gar nicht erlebt haben. Um etwas Spannendes zu erleben, muss man nämlich von sich selbst glauben, dass man es wert ist, daran teilzuhaben. Das tun die meisten Messies leider nicht.“

Psychoanalytiker gehen dabei noch einen Schritt weiter und sprechen von einer narzisstischen Störung oder einer oralen Schädigung: Die Betroffenen versuchen seelische Löcher (zum Beispiel traumatische Ereignisse, Verluste, emotionale Defizite) mit Äußerlichkeiten, also durch das Sammeln und Horten von Gegenständen, zu stopfen. So sollen beispielsweise emotionale Verluste beziehungsweise Verlustängste materiell befriedigt werden. Oder das Zustellen und Unbewohnbar-Machen des eigenen Wohnraums als Selbstbestrafung dienen, zum Beispiel als Reaktion auf frühkindliche Erfahrungen mit aggressiven Bezugspersonen. In den meisten Fällen geht es aber laut Literatur um Ängste, zu einem großen Teil treten daher auch Angststörungen und Messie-Syndrom zusammen auf.

Farina Haase,
Apothekerin, Volontärin

Quellen:  Ärzteblatt
      www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org
      www.spektrum.de
      www.jetzt.de
      Pharmazeutische Zeitung
      www.d-nb.info
      www.link.springer.com

Nassim Agdari-Moghadam: Pathologisches Horten, Praxisleitfaden zur interdisziplinären            Behandlung des Messie-Syndroms; Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2018;171-172
             
Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5; 337-342

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