Die stille Sucht

MEDIKAMENTENMISSBRAUCH

Eine Abhängigkeit bleibt häufig lange Zeit verborgen. In der Apotheke sollte sorgfältig hingeschaut werden, wenn Kunden in ungewöhnlicher Weise und Menge Arzneimittel verlangen.

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Etwa 1,4 bis 1,9 Millionen Menschen sind hier zu Lande von Medikamenten abhängig. Möglicherweise liegt die Dunkelziffer noch deutlich höher. Frauen sind doppelt bis dreifach so oft betroffen wie Männer. Besonders gefährdet sind ältere Frauen mit chronischen Vorerkrankungen. Die Medikamentenabhängigkeit wird auch deshalb als „stille Sucht“ bezeichnet, weil die Betroffenen nach außen nur schwer erkennbar sind.

Unterschieden werden Substanzen, die in schädlicher Weise angewendet werden, aber keine körperliche Abhängigkeit erzeugen, beispielsweise Laxanzien oder nichtsteroidale Antirheumatika, von den psychotropen Stoffen, die eine suchterzeugende Wirkung haben. Solange die Zufuhr der jeweiligen Substanz Entzugssymptome vermeidet, sind sich viele Abhängige selber ihrer Situation nicht bewusst. Ein Beispiel dafür sind Benzodiazepin-Abhängige. Hier existiert die Form der „low-dose-dependency“, bei der die Patienten zwar keine Dosissteigerungen benötigen, aber dennoch bei Absetzen Entzugserscheinungen haben.

Was treibt in die Sucht? Bei vielen Betroffenen liegen körperliche, zum Beispiel chronische Schmerzen oder psychische Co-Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Persönlichkeitsstörungen vor. Arzneimittel gelten allgemein als akzeptierte Unterstützung für einen funktionierenden Körper und werden in der Werbung als medikamentöse „Energizer“ oder Wohlfühlmittel angepriesen. Frei zugängliche verschreibungsfreie Medikamente der Selbstmedikation schaffen kurzfristig Abhilfe gegen Beschwerden und motivieren zum Wiederholungsgebrauch. Werden sie in mehreren Apotheken gekauft, fallen auch größere Mengen kaum auf.

Missbrauch in der Selbstmedikation Typische Beispiele für missbräuchliche Anwendung sind abschwellende Nasensprays, Appetitzügler und Erkältungspräparate. Analgetika und Hypnotika sind die am häufigsten missbrauchten Wirkstoffgruppen. Bei den apothekenpflichtigen spielen besonders nichtsteroidale Antirheumatika sowie Antihistaminika (Doxylamin, Diphenhydramin, Dimenhydrinat) eine wichtige Rolle.

Der häufige Gebrauch von Kopfschmerzmitteln, also die tägliche Einnahme an mehr als drei Tagen hintereinander oder an mehr als zehn Tagen pro Monat, kann zu einem Schmerzmittel-induzierten Kopfschmerz führen. Ein Teufelskreis entsteht, der massive Organschäden hervorrufen kann. So sind Nierenschäden bei zehn Prozent der Dialysepatienten auf einen Dauergebrauch nichtsteroidaler Antirheumatika zurückzuführen.

Antihistaminika der älteren Generation haben sedierende Effekte, die zur Schlafanstoßung eingenommen werden. Höhere Dosierungen bewirken starke anticholinerge und zentrale Nebenwirkungen. Bei Erwachsenen beträgt die toxische Dosis von Diphenhydramin 15 Milligramm pro Körpergewicht. Bei älteren Patienten ist bei allen Hypnotika die erhöhte Sturzgefahr zu beachten.

Abhängigkeit auf Rezept Etwa vier bis fünf Prozent aller häufig verordneten Arzneimittel besitzen ein Abhängigkeitspotenzial. Besonders gefährlich sind die Benzodiazepine, die bereits nach einer Einnahme von sechs Wochen eine Abhängigkeit erzeugen können. Sie werden bei Schlafstörungen und zur Therapie von Angststörungen nicht länger als vier bis acht Wochen in der ambulanten Behandlung empfohlen. Tatsächlich wird häufig länger als drei Monate verordnet.

MÖGLICHE EINSTIEGSFRAGEN BEI VERDACHT AUF MISSBRAUCH
+
Gegen welche Beschwerden oder Störungen nehmen Sie diese Medikamente ein?
+ Wie verändern sich Ihre Beschwerden, wenn Sie das Medikament weglassen?
+ Haben Sie schon einmal gehört, dass diese Tabletten auch Kopfschmerzen auslösen können?

Anzeichen einer Sucht sind psychische Entzugserscheinungen nach Absetzen des Medikaments wie Schlaflosigkeit, Unruhe, Angstzustände, erhöhte Reizbarkeit und depressive Verstimmung. Individuell verschieden können die körperlichen Entzugssymptome wie Blutdruckanstieg, Kopf- und Muskelschmerzen, gastrointestinale Beschwerden bis hin zu epileptischen Anfällen sein. Ein Benzodiazepinentzug wird durch eine schrittweise Reduktion vollzogen. Innerhalb weniger Tage wird die Anfangsdosis halbiert. In weiteren langsameren Schritten wird über mehrere Wochen ausgeschlichen.

Medikamente als Droge in der Szene Immer öfter werden Arzneimittel als Ersatzdroge ausprobiert. Der Hustenstiller Dextrometorphan hat in hohen Dosierungen psychotrope Effekte. Auch Antihistaminika, Loperamid in Kombination mit Chinin und alle stark wirksamen rezeptpflichtigen Analgetika und Sedativa werden konsumiert.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 08/11 ab Seite 72.

Dr. Katja Renner, Apothekerin

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