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Tanorexie

JENSEITS DER BLÄSSE

Bei der Sucht nach gebräunter Haut nutzen die Betroffenen jeden Sonnenstrahl. Sie sind oftmals Stammgäste im Solarium und riskieren so schwere Hautschädigungen bis hin zum Hautkrebs.

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Der Name setzt sich zusammen aus dem Englischen „tan“ und dem Griechischen „Anorexie“ (als Parallele zur „Anorexia nervosa“, Magersucht). Die Betroffenen empfinden sich zwar nicht als zu dick, aber als zu blass, leiden also wie bei der Magersucht unter einer Körperwahrnehmungsstörung.

Neue Süchte Alkohol- oder Nikotinsucht sind klassische stoffgebundene Süchte. In den vergangenen Jahren fanden Experten jedoch heraus, dass auch Tätigkeiten abhängig machen können. Beispiele für solche nicht stoffgebundenen Süchte sind etwa Kauf- oder Spielsucht. Dabei können sich sogar aus eigentlich gesunden Tätigkeiten krankhafte Abhängigkeiten entwickeln, wie etwa die Sportsucht oder die Orthorexie, also die krankhafte Fixierung auf gesundes Essen. Im Prinzip zählt auch die Tanorexie, die erstmals 2004 von einem texanischen Arzt beschrieben wurde, zu dieser übersteigerten Form. Denn im richtigen Maß ist Sonnenlicht für den menschlichen Organismus gesund, ja sogar lebensnotwendig.

Lernen durch Belohnung Das Belohnungszentrum in unserem Vorderhirn ist dafür zuständig, dass wir glücklich sind. Wird es aktiviert, werden Endorphine ausgeschüttet, Botenstoffe, die Glücksgefühle vermitteln. Das Stimmungshoch vergeht jedoch, wenn der Endorphinspiegel wieder sinkt. Evolutionstechnisch war das wichtig, denn so lernte man, lebens- und arterhaltende Maßnahmen wie Essen oder Sex, die das Belohnungszentrum aktivieren, immer wieder durchzuführen. Auch Sport und Sonne aktivieren dieses Zentrum und lassen den Körper Glückshormone ausschütten.

Zur Sucht wird das aber erst, wenn die Betroffenen das Verhalten extrem häufig wiederholen, wenn sie nicht damit aufhören können, obwohl es ihnen körperlich oder sozial schadet, und wenn sie immer mehr davon benötigen. Dann gilt die im Gehirn geschaffene Verknüpfung: „Sonne macht glücklich“ plötzlich auch im Umkehrschluss: „Keine Sonne macht unglücklich.“

Tanorexiker sind ohne Sonne auf Entzug. Und der zeigt erstaunlicherweise dieselben Symptome wie bei stofflichen Süchten: Dürfen sie sich nicht bräunen, werden die Betroffenen nervös, zittern, bekommen Angstzustände. Die Symptome sind zwar psychisch bedingt, manifestieren sich jedoch körperlich und sind damit genau so real wie zum Beispiel die eines Rauchers. Das Risiko, eine Tanorexie zu entwickeln, wird allerdings, wie bei allen Süchten, durch eine psychische Prädisposition noch erhöht.

»Dürfen sie sich nicht bräunen, werden die Betroffenen nervös, zittern und bekommen Angstzustände.«

Bei Bräunungssüchtigen liegt eine Körperwahrnehmungsstörung zugrunde. Sie erkennen nicht, dass sie bereits übernatürlich stark gebräunt sind. Sehen sie in den Spiegel, nehmen sie nur einen krankhaft blassen Menschen wahr.

Gegen jede Vernunft Seit sonnengebräunte Haut nicht mehr dem Schönheitsideal entspricht, fallen Tanorexiker in der Gesellschaft noch mehr auf. Viele gehen mehrmals in der Woche, manche sogar täglich, ins Solarium. Wie bei jeder Sucht empfinden auch hier die Betroffenen ihr Verhalten sehr lange als nicht krankhaft. Meist entsteht überhaupt erst ein Problembewusstsein, wenn sie auf die unnatürlich braune Hautfarbe angesprochen werden oder wenn sie mit massiven Hautproblemen beim Hausarzt oder Dermatologen vorstellig werden. Dann kann die gesundheitliche Schädigung jedoch schon sehr stark fortgeschritten sein.

Der Hinweis auf das Gesundheitsrisiko löst bei Tanorexikern jedoch kein Umdenken aus. Wie alle Süchte, ist Tanorexie eine Krankheit, die einer Therapie bedarf. Aus eigener Kraft schaffen es nur wenige Betroffene, von ihrer Sucht wegzukommen. Da der Auslöser ein psychisches Problem ist, gilt es, dieses anzugehen. Viele Ärzte haben jedoch noch nie etwas von Tanorexie gehört, was die Suche nach Hilfe erschwert. Am besten sind Betroffene bei Suchtmedizinern aufgehoben, die sich mit nicht stoffgebundenen Süchten auskennen.

Doch selbst, wenn die Krankheit erkannt wurde, gehen die Probleme weiter, denn Tanorexie ist noch nicht als eigenständige Krankheit anerkannt. Eine stationäre Therapie oder Rehabilitationsmaßnahme ist aber ohne Anerkennung der Erkrankung nicht möglich. Tanorexiker müssen den Entzug also ambulant schaffen, was bei Süchten erwiesenermaßen wesentlich schwieriger ist.

Sonnenstudio als Mittelpunkt des Lebens Oft geht Tanorexie mit Depressionen einher. Die Bräunungssucht trifft vor allen Dingen junge, sozial isolierte Menschen. Für sie ist das Sonnenstudio häufig ein Ort, an dem sie Akzeptanz erfahren und Kontakte knüpfen können. Aufklärung ist daher besonders wichtig. Ob das seit 2009 geltende Solariumsverbot für Jugendliche unter 18 Jahren zur Eindämmung der Sucht beitragen konnte, ist nicht bekannt, da es bisher kaum Zahlen oder Studien zur Tanorexie gibt.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 02/15 ab Seite 128.

Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist

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