© DIE PTA IN DER APOTHEKE
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Persönlichkeiten der Naturheilkunde

HILDEGARD, DIE STREITBARE ÄBTISSIN

Im Jahr 1098 wurde im rheinhessischen Bermershein eine außergewöhnliche Frau geboren: Hildegard von Bingen. Sie schaffte es, in einer von Männern dominierten Zeit etwas zu bewirken.

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Ein Teil ihres schriftlich fixierten Nachlasses bestand in der „Hildegard-Medizin“, ein Titel, der zwar erst in den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts aufkam, aber dennoch eine ganz eigene Art der Naturheilkunde beschreibt. Genauer stellt es einen Versuch dar, die vorherrschende Viersäftelehre mit der Phytotherapie zu vereinen. Darin offenbart sich ein erstaunliches Wissen über die Heilkraft von Pflanzen; es werden Krankheiten wirksam behandelt, über deren Ursprung die Menschen zur damaligen Zeit noch nichts wussten.

Entschlossen und geschäftstüchtigHildegard von Bingen (ihren Namen erhielt sie später aufgrund der Lage ihres Klosters) ist das zehnte Kind von sogenannten „Edelfreien“; diese gingen traditionsgemäß ins Kloster. Bereits mit acht Jahren wird sie einer Benediktinerin zur Erziehung übergeben. Mit ungefähr 38 Jahren – genaue Datierungen sind wegen der Quellenlage schwierig – erhält sie erstmals Verantwortung im Kloster auf dem Disibodenberg. Eine ihrer ersten Amtshandlungen besteht darin, dass sie die asketischen Bestimmungen, was Speisen und die Dauer der Gebete betraf, lockert. Es gipfelt in einem ausgewachsenen Streit mit der kirchlichen Obrigkeit.

Hildegard will sich Einschränkungen und Verbote nicht bieten lassen. Sie plant, ein eigenes Kloster zu gründen, will weg aus der abgelegenen, ländlichen Klause, hin an die Wirtschafts- und Kommunikationswege entlang des Rheins. Elf Jahre später hat sie ihr Ziel erreicht. Kraft ihrer Persönlichkeit erlauben es Spenden, das Kloster am Rupertsberg in der Nähe von Bingen zu gründen. Es wird ein riesiger Erfolg; nach ein paar Jahren muss Hildegard zusätzliche Gebäude erwerben, um weitere Novizinnen unterzubringen. In die Zeit am Disibodenberg fällt die erste Schilderung ihrer „Visionen“. Hildegard beschreibt darin ganz konkrete Handlungsaufforderungen, die ihr von Gott gesandt würden.

In der Hildegard-Forschung scheiden sich in dieser Frage die Geister; möglicherweise kann dieser Weg eine Möglichkeit gewesen sein, um eine Stimme im machtpolitischen Konzert der tonangebenden Männer ihrer Zeit zu bekommen. Glauben und Wissen, Religion und weltliche Macht waren damals nicht voneinander getrennt, nur in einem waren sich die Männer einig: Frauen hatten nichts zu sagen, das war wider die Natur. Schließlich hatte schon der Apostel Paulus in der Bibel geschrieben, dass das Weib in der Gemeinde schweigen solle. Indem Hildegard ihre „Visionen“ veröffentlichte (und sich dazu vorher die Erlaubnis hochgestellter Kirchenmänner beschaffte), bekamen ihre moralischen und ethischen Handlungsanweisungen sozusagen einen offiziellen Gütestempel.

Hildegard von Bingen
Die Benediktinerin lebte von 1098 bis 1179 und war eine bedeutende Universalgelehrte, die Originäres in den Bereichen Medizin, Religion, Musik und Ethik schuf. Sie entwickelte unter anderem eine Phytotherapie mit genauen Rezepten, die heute „Hildegard-Medizin“ heißt. In einer Zeit, in der Frauen keine Macht besaßen, schaffte sie es öffentlich zu wirken und ihre Lehren mittels göttlicher Visionen zu legitimieren. Hildegard starb 81-jährig. Bereits zu Lebzeiten, aber auch danach beinahe mystisch verehrt, wurde sie 2012 von Papst Benedikt XVI. heiliggesprochen.

Ganzheitliches Menschenbild Und Hildegard hatte eine Menge zu sagen. Es erwies sich, dass diese charismatische und hochintelligente Frau ganz konkrete Vorstellungen hatte, auf so ziemlich allen Gebieten: In der Musik – Hildegard komponierte geistliche Melodien und Singspiele –, in der Medizin und der Kosmologie. Die Äbtissin ist die erste, die den Menschen in einem Gesamtzusammenhang mit der Natur sieht: Wenn es der Seele nicht gut geht, wird auch der Körper krank. Eine sinn- und maßvolle Lebensführung trägt zum allgemeinen Wohlbefinden bei.

Hildegard war eine der ersten, die die Bedeutung der Ernährung erkannte: „Wenn nämlich ein Mensch an allerlei Mühsal, Angst und Folgen von vielerlei Speisen und Getränken leidet, sodass sich durch ungeeignete Speisen und Getränke verkehrte Schlackenstoffe angesammelt haben, dann kommt die erschütterte und ermüdete Seele zum Erliegen.“ Die praktische Frau entwickelte nachvollziehbare Rezepte mit genauen Mengenangaben; es gibt einen Wein gegen Herzschwäche, eine Paste zur Darmentgiftung, „Nervenkekse“ mit reichlich Muskat und Zimt, Salbeiwein gegen Sodbrennen und Quendelsuppe gegen Hautreizungen. Sie entdeckt und beschreibt die Heilkraft der Bitterkräuter: Andorn, Beifuß, Bohnenkraut, Ringelblume und Schafgarbe sowie Galgant und Ingwer stehen auf der Liste ihrer Lieblingszutaten.

Naturbelassene Ernährung Hildegard rät Arthritikern, Rinderknochen gut auszukochen und die Gelatine als Vorbeugung gegen ihre Gelenkbeschwerden zu nehmen – obwohl sie noch nicht wissen konnte, dass sich die Gelenkschmiere daraus aufbaut. Von den Getreiden bevorzugt sie besonders den Dinkel. In dieser „Urform des Weizens“ sieht sie das Nonplusultra, entwickelt ein besonderes Brotrezept und schwört darauf, dass es „Lebensenergie und Frohsinn“ erwecke, ja, den ganzen Organismus wieder gesunden lasse. Dinkel enthält tatsächlich mehr Eiweiß, Mineralstoffe, Vitamine und Spurenelemente als andere Getreide, doch auch das konnte Hildegard nicht wissen.

Ihre Denkweise war revolutionär: Hildegard propagierte eine ausgewogene, naturbelassene Ernährung zur Steigerung der Abwehrkräfte und Vorbeugung von Krankheiten. Sie riet zur Mäßigung in allen Bereichen, behauptete, dass Ruhepausen genauso wichtig seien wie Arbeit und fand, dass Meditieren den Geist reinige. Schon zu Lebzeiten wird Hildegard wie eine Heilige verehrt. Sie wird zur Beraterin der männlichen Elite und weist den Kaiser auch schon einmal an, seine „Gier aufzugeben“ – die Ordensfrau kann sich das erlauben.

Stets weisen ihr ihre Visionen den Weg; Erscheinungen, die mit einem Licht verbunden sind und in der eine Stimme ihr Anweisungen gibt. All das beschreibt sie eindeutig und bildlich. Der britische Neurologe Oliver Sacks, Autor des Buches „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, interpretierte die Beschreibungen der Nonne so: Hildegard von Bingen sei eine schwere Migränikerin mit Aura gewesen, die unter Lichtphänomenen mit halluzinatorischen Zügen litt. Andere Wissenschaftler schlossen sich dieser Vermutung an.

Späte Heiligsprechung Was auch immer es war, das der Äbtissin vom Rhein ihre Eingebungen verschaffte, kann heute nicht mehr verifiziert werden. Fast tausend Jahre ist es her, dass diese außergewöhnliche Frau ihren Kodex schriftlich niederlegen ließ, denn sie selbst konnte kein Latein. Die Kirche tat sich schwer mit dieser Ausnahmeerscheinung; eigentlich hätte sie heiliggesprochen werden sollen, doch das scheiterte am Kompetenzgerangel der Mächtigen. Es brauchte ein Jahrtausend, bis der deutschstämmige Papst Benedikt XVI. sie 2012 offiziell zur Heiligen erklärte.

Den Artikel finden Sie auch in unserem Sonderheft „Phytotherapie und alternative Heilmethoden“ ab Seite 50.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

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