Kleiner Junge steht an Bahngleis. © tatyana_tomsickova / iStock / Getty Images Plus
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Verschickungskinder

GEWALT IM FERIENHEIM

Seelische und körperliche Gewalterfahrungen in der Kindheit machen sich bis ins Erwachsenenalter bemerkbar. Opfer der schwarzen Pädagogik leiden häufig unter Depressionen, Angst- oder Bindungsstörungen.

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Bis in die 1980er Jahre wurden insgesamt etwa 12 Millionen Kinder aus Westdeutschland, die gesundheitliche Probleme zeigten, über einen Zeitraum von mehreren Wochen oder sogar Monaten in Kinderkurheime geschickt. Sie erlitten dort körperliche Misshandlungen, seelische Gewalt und Demütigungen anstatt Erholung und Regeneration. Die Verschickung begann nach 1945 und endete in den 1980/1990er Jahren: Kleinkinder wurden in Sammeltransporten oder alleine in Kinderheilstätten gebracht. Dazu gab es in Westdeutschland etwa 1200 Heime in 350 Kurorten (Stand 1964), unter anderem auf den ost- oder nordfriesischen Inseln, aber auch im Allgäu, Harz, Schwarzwald oder in Mittel- und Hochgebirgsorten.

In der Regel blieben die Kinder sechs Wochen in der Kur, dafür erhielt das Heim einen Tagessatz von zwölf Deutsche Mark pro Kind. Meist waren die Sprösslinge bis zu sechs Jahren alt, denn die Erholungszeit wurde für die Zeit vor dem Schulalter empfohlen. Chronisch kranke Kinder mit Rheuma, Diabetes mellitus oder Asthma kamen in Kinderkurkliniken und wurden dort auch ärztlich betreut, während der Aufenthalt bei Bronchitis, Über- oder Untergewicht, Mangelerscheinungen oder Haltungsschäden in Kindererholungsheimen ohne ärztliche Leitung geplant war. Zahlreiche Arbeiter- und Angestelltenkinder, vor allem aus den städtischen Ballungsgebieten, wurden unter dem Titel „Kassenverschickungen“ in die Erholungsheime gebracht und kamen traumatisiert zurück – und das, obwohl es sich um eine sozialmedizinisch-pädiatrische Maßnahme vom kinderärztlichen Gesundheits- und Kurwesen handelte.

Zu dick, zu dünn, zu blassEnde der 1950er Jahre erhielten Hausärzte Werbung von den Trägern dieser Heime, um sie zu motivieren, möglichst vielen Kindern die Kur zu verordnen, in den 1960er Jahren gab es daraufhin einen richtigen Boom. Die Kinder sollten an die frische Luft, denn die Luftveränderung rege den Appetit an und stärke das Abwehrsystem. Eltern brachten ihren Nachwuchs zum Bahnhof und die Kinder wurden in Sammeltransporten mit dem Bus oder Zug an ihre Zielorte gefahren. Man riet den Eltern, den Kindern vorher nicht zu erzählen, dass sie alleine unterwegs sein würden, um mögliches Heimweh zu verhindern. Dies war auch der Grund dafür, dass Mutter und Vater ihre Kinder während der Kur nicht besuchen durften.

Schwarze PädagogikRedeverbote, Erniedrigungen, Drangsalierungen, Esszwang oder Schläge – dies und vieles mehr erlebten die Kinder in ihren sogenannten Kuren. Sie wurden lächerlich gemacht, ans Bett gefesselt, in den Waschraum gesperrt, mussten sich an überlange Schlafenszeiten halten oder nachts stundenlang draußen stehen, sodass auch die anderen Kinder „gewarnt“ waren. Stofftiere wurden ihnen weggenommen, Geschwister getrennt und es bestand ein Kontaktverbot zur Familie. In einigen Kurheimen wurden Kinder mit Psychopharmaka bewusst ruhig gestellt. Sie erlebten eine ständige Atmosphäre der Angst und kehrten massiv traumatisiert anstatt erholt von den Aufenthalten zurück. Hinzu kam, dass der Schulausfall nicht ausgeglichen wurde, sodass die Kinder große Lücken aufwiesen, die sie teilweise nicht mehr aufholen konnten.

Körperliche und seelische MisshandlungenDie Erziehungsmethoden, die in den Kuren vorherrschten, sind der schwarzen Pädagogik zuzuordnen. Hierbei handelt es sich um einen Sammelbegriff für Maßnahmen, die mit Gewalt und Einschüchterung einhergehen. Erzieher bedienen sich repressiver Mittel, sehen sich als Herrscher über das abhängige Kind und bestimmen über Recht und Unrecht. Außerdem vertreten Anhänger der schwarzen Pädagogik die Meinung, dass man dem Kind so früh wie möglich seinen Willen nehmen sollte, dass emotionale Kälte ideal auf das Leben vorbereite, während Zuneigung den Nachwuchs verweichlicht. Der Begriff „schwarze Pädagogik“ wurde von der Soziologin Katharina Rutschky eingeführt, die ein Buch unter demselben Titel publizierte.

Mutterliebe verboten! 1934 veröffentlichte die Lungenfachärztin Johanna Haarer einen Ratgeber unter dem Titel „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, das als Grundlage in Heimen, in Kindergärten sowie in der heimischen Erziehung galt. Kinder sollten möglichst bindungsarm aufgezogen, ihre Bedürfnisse ignoriert werden. Weinte ein Baby, sollte es nach Haarer links liegen gelassen werden – in jedem Fall waren Zärtlichkeiten zum Kind zu vermeiden. Jedoch lernen Neugeborene, die nur mit Gestik, Mimik und Geschrei kommunizieren können, durch die Zurückweisung, dass ihre Äußerungen nichts wert seien. Heute weiß man: Wenn Babys Hunger oder Einsamkeit erleben und sie damit alleine sind, sind ihre Emotionen mit einer Todesangst gleichzusetzen. Oft bilden sich Bindungstraumata aus, die Beziehungen zu anderen Menschen erschweren.

Langfristige Konsequenzen Die Misshandlungen blieben für Betroffene nicht ohne Folgen: Untersuchungen zeigen, dass Schläge und andere Formen der Einschüchterung mit der Entwicklung von Depressionen, Essstörungen, Borderline- und Angsterkrankungen zusammenhängen. In vielen Fällen sind die Erfahrungen verdrängt und dem Bewusstsein nicht unmittelbar zugänglich, was zu Beeinträchtigungen bis ins Erwachsenenalter führen kann. Belastende Ereignisse in der Kindheit in Form von körperlicher und seelischer Gewalt sollen auch das Diabetesrisiko erhöhen. Das Risiko steige laut Johannes Kruse, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin (DGPM), um 60 Prozent, insbesondere wenn viele belastende Faktoren zusammenkommen. Forschungsergebnisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass Psychotherapien in solchen Fällen erfolgsversprechend sind.

Zeit für Aufklärung Heutzutage kämpfen die Opfer der Kinderkuren um Gerechtigkeit und wünschen sich, dass die Geschehnisse aufgeklärt werden. Ende des vergangenen Jahres gab es den ersten Kongress „Das Elend der Verschickungskinder“ rund um das Thema Kurheime auf der Insel Sylt, um auf das kaum erforschte Schicksal aufmerksam zu machen. Es fanden Gespräche mit Leidensgenossen statt, neue Qualen kamen zutage, doch es wurde auch ein Katalog an Forderungen aufgestellt. Neben der Aufarbeitung geht es Betroffenen auch darum, mit den Problemen nicht mehr alleine gelassen zu werden.

In Nordrhein-Westfalen gab es einen Antrag der SPD-Fraktion, in dem Hilfe des Landes für die Verschickungskinder gefordert wurde. Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) stimmte der Aufarbeitung des Schicksals der Verschickungskinder zu, das Land solle Betroffene mit niedrigschwelligen therapeutischen Hilfsangeboten unterstützen. Die Jugend- und Familienministerkonferenz hat auf Bundesebene eine Studie beschlossen, wofür der Bund den Forschungsauftrag geben muss.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 03/2021 ab Seite 128.

Martina Görz, PTA, M.Sc. Psychologie, Fachjournalistin

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