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INTERVIEW

'DROGE' SPORT

Laufen bis zur Erschöpfung, obwohl es schon weh tut. Jeden Tag aufs Neue – was Menschen antreibt, für die körperliche Bewegung längst kein Spaß mehr ist, erklärt der Sportpsychologe Dr. Heiko Ziemainz.

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Was ist der Unterschied zwischen Sportsucht und Sportsuchtgefährdung? Wie viele sind davon betroffen?
Gegenüber sämtlichen früheren wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Sportsucht differenzieren die Autoren der Erlanger Studie zu dieser Thematik erstmals zwischen Sportsucht und Sportsuchtgefährdung. Sportsüchtige missachten körperliche Signale und laufen auch trotz höllischer Schmerzen weiter. Ein anderes Indiz für Sportsucht ist der soziale Verfall bei Ausdauersportlern: Sie tolerieren etwa, dass ihre Ehe in die Brüche geht oder dass sie ihr soziales Umfeld nicht mehr wahrnehmen, weil sie immer mehr Sport brauchen.

Der Ausdauersport wird für Sportsüchtige zum zentralen Motiv – das Verhalten kontrolliert die Person, nicht umgekehrt. Ähnlich wie Raucher oder Alkoholiker leiden sie unter Entzugserscheinungen. Sie befinden sich etwa in einer depressiven Stimmung, verspüren innere Unruhe oder berichten von Schlaflosigkeit, wenn sie ihrer Betätigung nicht nachgehen können. Anders verhalten sich jene Ausdauersportler, die als gefährdet eingestuft werden. Diese haben die Kontrolle noch nicht verloren und achten noch auf körperliche Symptome.

»Das Verhalten kontrolliert die Person, nicht umgekehrt.«

In der durchgeführten Untersuchung waren 4,5 Prozent der Sportlerinnen und Sportler sportsuchtgefährdet und vermutlich sind 10 Prozent davon sportsüchtig. Letzteres ist allerdings nur eine Schätzung. Besonders gefährdet sind jüngere Athleten und jene, die sich besonders oft und besonders häufig körperlich ertüchtigen. Die höchsten Gefährdungswerte weisen jedoch Sportler auf, die bereits jahrelang trainieren.

Welche Sportarten werden von den Betroffenen meistens ausgeübt – und warum gerade diese?
Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass unsere Studie sich nur mit Ausdauersportlern beschäftigt hat. Bezüglich der weiteren Befunde kann folgendes konstatiert werden: Vom Hobby- bis zum Leistungssportler, ob Mann oder Frau – wer eine Ausdauersportart wie zum Beispiel Triathlon, Laufen oder Radfahren betreibt, kann an einer Sportsucht erkranken.

Ab wann wird aus normalem Training ein Zwang?
Dies ist schwierig zu beantworten. Grundsätzlich ist eine Bindung an Sport ja etwas sehr positives. Dadurch verbessert sich, von den physiologischen Anpassungsprozessen einmal abgesehen, unter anderem das Wohlbefinden, Stress kann unter Umständen abgebaut werden und die Selbstwirksamkeit steigt.

Wo ist der Unterschied zu Leistungssportlern?
Handelt es sich um Athleten, die mit Sport ihr Geld verdienen, ist es klar, dass der Sport in vielen Teilen ihr Leben bestimmt. Aber auch hier ist es, ähnlich wie in anderen Berufen auch (workaholic), dass das Ganze zur Sucht werden kann.

Mehrmals die Woche trotz vollem Terminkalender für Marathon oder Triathlon trainieren: Ist das noch ein gesunder Ausgleich zum stressigen Job oder schon der Anfang einer Sportsucht?
Grundsätzlich ist auch dies häufig etwas Positives, wenn Personen sich zielgerichtet auf ein Event vorbereiten und sie sich dadurch regelmäßig bewegen. Schwierig wird es dann, wenn die Aspekte, wie sie bereits geschildert wurden, auftreten. Wann und warum nun die Bindung an den Sport in eine Sucht umschlägt, ist aufgrund der momentanen Befundlage schwierig zu sagen. Vermutlich spielen hier bestimmte Persönlichkeitsmerkmale (z. B. ein negatives Selbstwertgefühl, Ängstlichkeit, Zwanghaftigkeit oder Perfektionismus) und kritische Lebensereignisse eine Rolle.

Laufen Sportsüchtige vor ihren Problemen weg, suchen sie beim Sport zum Beispiel Erfolge, die beruflich/privat ausbleiben?
Grundsätzlich können private oder berufliche Krisen die Entstehung einer Sportsucht begünstigen. Der Grund hierfür liegt aber eher in den mangelnden Bewältigungsmöglichkeiten als im Ausbleiben von entsprechender Anerkennung und/oder Bestätigung. Die Anerkennung und Bestätigung durch den Sport und die damit verbundene Steigerung des Selbstvertrauens ist hingegen ein grundsätzlich positiver Effekt der körperlichen Aktivität, der sich dann wiederum auf andere Lebensbereiche positiv auswirkt.

Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Auslösern oder Gründen?
Diesbezüglich konnten wir in unserer Studie keinen Unterschied feststellen.

Ähnelt die Sportsucht auf neurobiologischer Ebene anderen Süchten?
Vermutlich ist sie mit anderen Verhaltenssüchten vergleichbar. Allerdings gibt es gerade aus neurobiologischer Sicht keine eindeutigen Befunde. Immer wieder und sehr kontrovers wird die Beta-Endorphin-Hypothese diskutiert. Beta-Endorphine sind körpereigene Opiate, die bei entsprechenden körperlichen Belastungen vom Körper produziert werden können. Ob diese allerdings in unmittelbarem Zusammenhang mit der Entstehung einer Sportsucht stehen, ist umstritten. Vielmehr scheint die so genannte Hypofrontalitätshypothese eine höhere Erklärungskraft zu haben.

Grundsätzlich wird bei diesem Ansatz davon ausgegangen, dass Sport die mentalen Prozesse, die im präfrontalen Kortex stattfinden (z. B. exekutive Aufmerksamkeitsregulation, bewusste Informationsverarbeitung) während intensiver körperlicher Belastung nicht mehr oder nur eingeschränkt stattfinden. Dies führt im Gegenzug zu einer Schmerzlinderung, einem Verlust der Wahrnehmung von Raum und Zeit und zu einem Gefühl der Enthemmtheit. Dieser als sehr positiv empfundener Zustand kann dazu führen, dass die Person diesen immer wieder versucht zu erreichen und so die Entstehung einer Sportsucht begünstigt wird.

Ist die Sportsucht eine anerkannte Krankheit? Wie wird sie therapiert?
Das Krankheitsbild Sportsucht/Sportsuchtgefährdung taucht bislang in den Diagnosemanualen der Klinischen Psychologie nicht auf. Zwar ist der Leidensdruck bei den Betroffenen hoch, doch die vollständige Einsicht in Kontrollverlust und körperliche Spätfolgen erfolgt meist erst während einer Psychotherapie. Bei den Athleten besteht häufig eine große Verharmlosungs- oder Verheimlichungstendenz. Hier ist professionelle Hilfe durch ambulante Therapeuten oder bei höherem Schweregrad eine stationäre Therapie zwingend notwendig. Unter anderem lernen sie in einer speziellen Gruppentherapie, Sport wieder in angemessenem Umfang zu betreiben. Hausarzt, Beratungseinrichtungen und Psychotherapeuten sind die entsprechenden Anlaufstellen. 


VITA
Dr. Heiko Ziemainz ist akademischer Oberrat am Institut für Sportwissenschaft und Sport der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Der promovierte Sportpsychologe beschäftigt sich seit Jahren mit psychischen Wirkungen von Sport und Bewegung in den Anwendungsfeldern Leistungs- und Rehabilitationssport. Als begeisterter Ausdauersportler ist er seit Jahren auf dem Fahrrad, in Laufschuhen oder auf Langlaufskiern unterwegs.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 08/13 ab Seite 100.

Das Interview führte Dr. Petra Kreuter, Redaktion

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