Um das Schwindelgefühl optisch umzusetzen, schuf der Regisseur Alfred Hitchcock in seinem gleichnamigen Film mit einer speziellen Kameratechnik den sogenannten "Vertigo-Effekt". © FroggyFrogg / iStock / Getty Images Plus

Vertigo – Der Film

ALFRED HITCHCOCK: ANGST WAR SEIN THEMA

„Vertigo“ heißt ein berühmter Film von Alfred Hitchcock. Der „Master of Suspense“, wie man den Regisseur auch nannte, baute auf dem Grundthema des Schwindels nicht nur die Story auf, sondern erfand auch den „Vertigo-Effekt“, eine Kameraführung, die von nachfolgenden Regisseuren oft kopiert wurde.

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Und, richtig, nicht nur dem Zuschauer wird schummrig, wenn er die Bilder des Films betrachtet: Auch die Hauptfigur James Steward überfällt immer wieder der Schwindel, wenn er von oben auf das alte Treppenhaus des Turmes heruntersieht, von dem aus er eben noch eine Frau hat herunterstürzen sehen… Was ist Traum, was ist Wirklichkeit? Und wer ist die geheimnisvolle blonde Frau. Der an Akrophobie (Höhenangst) leidende Held braucht über 100 Filmminuten, um es herauszufinden; die Story ist kompliziert, einfach schwindlig machend, und am Ende ist nichts so wie es am Anfang erscheint.

Thriller, Krimi, Horrorfilm Alfred Hitchcock, der von 1899 bis 1980 lebte, ist einer der genialsten Filmemacher der Neuzeit. Ihm gelang es, Elemente des Thrillers, des Krimis und des Horrorfilms zu einer einzigartigen Mischung zu verweben. Im kollektiven Filmgedächtnis sind geblieben die mörderische Duschszene aus „Psycho“ und auch die aggressiven Vögel aus „The Birds“, deren blonde Hauptdarstellerin nach Fertigstellung des Films kein Wort mehr mit dem Regisseur sprach: Nach dem Drehen der Schlüsselszene, in der die Tiere die Schauspielerin wirklich angriffen, hätte Tippi Hedren beinahe ein Auge verloren und erlitt einen Nervenzusammenbruch.

Doch wie kommt jemand darauf, solche Drehbücher zu schreiben? Auffällig ist auch, dass in Hitchcocks Werk sehr häufig dominante Mütter, starke Frauen und männliche Antihelden auftauchen. Der in England geborene Hitchcock stritt gar nicht ab, dass diese Tatsachen viel mit seinem Leben zu tun hatten. Er wird als drittes Kind eines Gemüsehändlers geboren, mit weitem Abstand zu seinen älteren Geschwistern, sodass er in seiner Kindheit oft allein ist. Zudem ist die Familie katholischen Glaubens und dabei umgeben von einer zumeist anglikanischen Bevölkerung. Der Vater ist zumeist abwesend, zeigt darüber hinaus wenig Gefühle – prägend für den jungen Alfred ist seine Mutter.

Mit sechs Jahren im Gefängnis Als Alfred sechs Jahre alt ist, kommt er an einem Abend durch ein Versehen zu spät nach Hause. Der Vater öffnet ihm die Tür, wie immer mit stoischer Miene. Immer noch ohne ein Wort zu sagen, schreibt er ihm einen Zettel, den er seinem jüngsten Sohn übergibt, mit der Bitte, ihn umgehend zur nächsten Polizeiwache zu bringen. Als der Polizist den Zettel liest, nimmt er den Jungen mit zu einer der Gefängniszellen und sperrt ihn dort für ungefähr fünf Minuten ein. Als er das schlotternde Kind wieder herauslässt, verabschiedet er es mit den Worten: „Das ist es, was wir mit ungezogenen Jungen tun.“

Kein Wunder, dass Polizisten im späteren Werk des Filmregisseurs fast immer schlecht wegkommen: Nie sind sie rechtzeitig da, sie zeigen sich recht begriffsstutzig und müssen schon mit der Nase auf etwaige Verbrechen gestoßen werden. Die Arbeit macht eigentlich immer der sympathische Antiheld. Und oft genug weiß auch der Zuschauer mehr als die Hauptfigur – Hitchcock macht sie gern zu seinen Komplizen.

Ängste und Phobien Der junge „Hitch“, wie er sich jetzt zu nennen pflegt, ist schon früh korpulent. Sein Übergewicht – zeitweise wiegt der recht klein gewachsene Mann 150 Kilo - beschert ihm zahlreiche Krankheiten wie etwa fortschreitende Gelenkbeschwerden. Und von klein auf wird er von Ängsten und Phobien beherrscht. Das erscheint kein Wunder bei den Erziehungsmethoden seiner Eltern. „Ich glaube, meine Mutter erschreckte mich, als ich drei Monate alt war“, erzählte er einmal in einer Talkshow. „Wissen Sie, sie sagte BUH zu mir! Ich bekam Schluckauf. Und dem Anschein nach war sie sehr zufrieden. Alle Mütter tun das, wissen Sie. So beginnt Angst in jedem von uns.“ Seine Fettleibigkeit rettet ihn vor dem Wehrdienst – der Zweite Weltkrieg steht vor der Tür – und lässt ihn sich ungestört seinem Beruf widmen.

Er empfindet sich als „unattraktiven jungen Mann, genauso fett wie ehrgeizig“. Bald gerät er in eine aufstrebende Filmgesellschaft, wo er Mädchen für alles wird, das Handwerk des Filmemachens lernt und davon sein ganzes Berufsleben lang zehren wird. In dieser Zeit lernt er seine Frau Alma kennen, mit der er bis zu seinem Tod verheiratet bleibt und die seine wichtigste Beraterin wird. Hitchcock liebt es, anderen makabre Scherze zu machen – so findet die junge Ehefrau einmal präparierte Rinderaugen im Kühlschrank oder auch den Wachsabdruck von Alfreds Kopf zwischen der Milch und der Butter. Die erste Kurzgeschichte, die er an eine Zeitung verkauft, handelt folgerichtig von einer jungen Frau, die schreiend vor Angst durch das Pariser Montmartre-Viertel gejagt wird, schließlich gefesselt und geknebelt in der Seine landet – und schließlich zitternd in einem Zahnarztstuhl aus der Narkose aufwacht.

Schwarzer Anzug, schwarze Krawatte Phobien („Marnie“), Nekrophilie („Vertigo“), eine fast inzestiöse Mutterliebe („Psycho“), schizoide Gewaltphantasien („Frenzy“) – Hitchcock liebt abgründige Themen und setzt sie auf geniale Weise um. Dabei hat er selbst Ängste, gegen die er sich mit unmäßigem Essen und stets gleichbleibender „Uniform“ panzert: Sogar zum Rosenschneiden im eigenen Garten trägt er einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte. Und wie es sich für einen Phobiker gehört, hat auch er sein ganz spezielles Thema: „Ich fürchte mich vor Eiern“, gesteht er einmal einem Journalisten. „Schlimmer noch, sie ekeln mich an. Dieses runde, weiße Ding ohne irgendwelche Löcher. Hat man jemals etwas Widerwärtigeres gesehen als ein Eidotter, das seine gelbe Flüssigkeit verschüttet? Blut ist vergnügt rötlich. Aber Dotter ist gelb, eklig… ich habe das noch nie probiert.“

Alfred Hitchcock wurde zwar 79 Jahre alt, doch die letzte Zeit war schwer. Die Arthritis plagt ihn so sehr, dass er sich bisweilen nur noch an den Wänden entlangbewegt. Manchmal benutzt er einen Rollstuhl zur Fortbewegung. Um die Schmerzen zu betäuben, trinkt er unmäßig Alkohol und muss sich schließlich einer Entziehungskur unterziehen – mit nur kurzfristigem Erfolg. Hitchcock leidet unter Depressionen, Krankenschwestern umsorgen ihn und füttern ihn mit Dutzenden Medikamenten. Bereits todkrank, wird er von der englischen Königin zum Ritter ernannt. An der Zeremonie kann er bereits nicht mehr teilnehmen. Am 29. April 1980 stirbt der Altmeister des spannungsgeladenen Thrillers an Nierenversagen.

Alexandra Regner,
PTA/Redaktion

Quelle: Thilo Wydra: Alfred Hitchcock, Suhrkamp BasisBiographie
   Spiegel 11/2013: "Sinfonien der Ängste" www.spiegel.de/spiegel/print/d-91488767.html
   Neon: "Alfred Hitchcock hatte Angst vor Eiern"          
   www.neon.de/artikel/kaufen/produkte/alfred-hitchcock-hatte-angst-vor-eiern/962700

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