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Orthorexie

ZWANGHAFT GESUND ERNÄHREN

Menschen mit einem orthorektischen Essverhalten möchten sich besonders gesund ernähren. Häufig ist ihnen dabei nicht bewusst, dass sie durch ihren Wahn eher das Gegenteil erreichen.

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Orthorexie beschreibt nicht Menschen, die sich besonders gut ernähren. Es beschreibt Menschen, die sich von morgens bis abends fragen, ob sie sich gesund ernähren. – so lautet ein Zitat von Nils Binnberg, ehemaliger Betroffener und Autor des Buches „Ich habe es satt – wie uns Ernährungsgurus krank machen“. Gesunde Ernährung hat in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt bereits seit 1956, was und wie viel man am besten verzehren soll. Fünfmal Obst und Gemüse am Tag, abwechslungsreich essen, die Vollkornvariante wählen, Fisch und Fleisch in Maßen genießen, pflanzliche Fette bevorzugen, Wasser trinken, langsam essen, Zucker und Salz reduzieren sowie körperlich aktiv bleiben – so lauten die Regeln für gesunde Ernährung.

Doch manchen Menschen reicht dies nicht, sie sind von einer gesunden Ernährung geradezu besessen: Glutenfrei, zuckerfrei, mehlfrei, ölfrei, ohne Dressing oder Soßen und komplett vegan – danach richtete sich auch die US-Bloggerin Jordan Younger. Im Grunde ernährte sie sich nur noch von Smoothies aus grünem Gemüse sowie von etwas Obst. Younger machte ihre Essstörung öffentlich und brachte ebenfalls ein Buch (Breaking vegan) heraus. Orthorexia nervosa – diesen Begriff rief der US-amerikanische Arzt Steven Bratman im Jahre 1997 ins Leben und meinte damit genau diese extreme Form des gesundheitsbewussten Essverhaltens.

Auch er war von der Orthorexie betroffen und optimierte seine Nahrungsaufnahme, wo er nur konnte. Bratman verspeiste schließlich nur noch Gemüse aus eigenem Anbau, das maximal 15 Minuten vor dem Verzehr geerntet worden war. Es gibt verschiedene Ernährungsformen, die in der Gesellschaft zunehmend auf Interesse stoßen, wie etwa das Clean Eating, das Lowcarb-Prinzip oder die vegane Ernährung. Betroffene halten sich zwar auch an spezielle Vorgaben, sie können dennoch lustvoll essen. Im Gegensatz dazu hat die Nahrungsaufnahme bei Personen mit Orthorexia nervosa einen zwang- haften Charakter, wobei der Genuss des Essens komplett in den Hintergrund tritt.

Menschen mit Orthorexie sind von gesunder Ernährung besessen.

Subjektive Kriterien Laut Einschätzungen von Friederike Barthels, Klinische Psychologin an der Universität Düsseldorf, sind etwa ein bis zwei Prozent aller Menschen auf eine zwanghafte Ernährungsweise fixiert. Betroffene beschäftigen sich täglich stundenlang damit, die richtigen Lebensmittel für ihre Mahlzeiten auszuwählen und stellen strenge Regeln auf. Sie konsumieren beispielsweise nur Speisen, die frei von chemischen Zusatzstoffen sind, und können sich am breiten Angebot an Nahrungsmitteln nicht erfreuen.

Die Kriterien, was als gesund oder ungesund gilt, legen sie selbst fest anstatt sich an allgemeinen Empfehlungen zu orientieren. Essgestörte befolgen ihre Ernährungsregeln strikt und informieren sich permanent über noch gesündere Ernährungsweisen. Auch für die Zubereitung benötigen Personen mit Orthorexie ungewöhnlich viel Zeit, da sie jedes Gramm genau abwiegen. Häufig verzichten sie nach dem Kochen auf ihre Nahrungsaufnahme, da sie befürchten, Fehler gemacht zu haben.

Umfangreiche Beeinträchtigungen In der Regel liegt der Orthorexie (anders als von Laien oft vermutet) nicht der Wunsch einer Gewichtsabnahme zugrunde, sondern vielmehr die Furcht davor, durch ungesunde Speisen krank zu werden. Auch Lebensmittelskandale oder der Wille, nachhaltig zu leben, können mögliche Motive sein. Dass Betroffene durch ihren Wahn ihrer Gesundheit nichts Gutes tun, ist ihnen nicht bewusst. Die abnorme Auseinandersetzung mit dem „richtigen“ Essverhalten führt zu einer Selbstwertsteigerung und gibt ihnen das Gefühl von Kontrolle, Sicherheit sowie Überlegenheit gegenüber Personen, die sich vermeintlich ungesund ernähren.

Weichen Menschen mit Orthorexie von ihrem Plan ab und verzehren unerlaubte Nahrung, kommen Gefühle von Angst, Selbstablehnung und Schuld auf. Zu den körperlichen Begleiterscheinungen einer Orthorexie zählen ein unerwünschter Gewichtsverlust, eine generelle Erschöpfung sowie ein Zustand der Mangelernährung. Manchmal sind Betroffene von ihrem Verhalten so überzeugt, dass sie Normalesser stark kritisieren. Dies kann zu Konflikten bis hin zur sozialen Isolation führen.

Essen als Problem Orthorexie ist derzeit kein anerkanntes Krankheitsbild, sodass die Störung weder im ICD-10 noch im DSM-IV aufgeführt sind. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass Orthorexie häufig mit Essstörungen wie Bulimie oder Magersucht im Zusammenhang steht. Das übertrieben gesunde Essverhalten gilt als Risikofaktor für eine Bulimie oder Anorexia nervosa, außerdem tritt es häufig nach einer behandelten Essstörung in Erscheinung.

Bei all diesen Varianten kontrollieren Betroffene ihre Nahrungsaufnahme sehr genau und vermeiden bestimmte Lebensmittel komplett. Barthels und ihr Team haben ein neues Messinstrument zur Einschätzung der Orthorexie entwickelt (Düsseldorfer Orthorexie-Skala). Dieses umfasst zehn Aussagen (zum Beispiel „Es fällt mir schwer, gegen meine Ernährungsregeln zu verstoßen.“), die auf einer vierstufigen Antwortskala bewertet werden. Testteilnehmer sollen die Ergebnisse im Anschluss mit einem Arzt oder Psychologen besprechen.

„Echte“ gesunde Ernährung Die DGE hat eine Ernährungspyramide veröffentlicht, welche die relativen Mengenverhältnisse von Lebensmittelgruppen, die für eine möglichst gesunde Ernährung geeignet sind, repräsentiert. Die Speisen, die sich an der Basis der Pyramide befinden, sind mengenmäßig zu bevorzugen, während die an der Spitze eingetragenen Nahrungsmittel nur in geringer Menge verzehrt werden sollten. Eine weitere Einteilung zeigt der DGE-Ernährungskreis: Er besteht aus sieben Teilen, die Informationen über die optimierten Mengen der jeweiligen Kategorie liefern. Je größer ein Segment des Kreises dargestellt ist, desto mehr sollte man aus dieser Gruppe verspeisen.

Die Getränke stehen im Zentrum und haben mit einer empfohlenen Menge von 1,5 Liter (Wasser) den größten Anteil des Kreises. Obst, Gemüse, Salat, Getreide, Getreideprodukte und Kartoffeln stellen die Grundlage einer vollwertigen Ernährung dar. Wurst, Fleisch, Fisch, Eier, Milch und Milchprodukte ergänzen den Speiseplan durch kleinere Portionen. Bei Öl und Fetten spielt die Qualität eine entscheidende Rolle: Pflanzliche Öle beinhalten wertvolle ungesättigte Fettsäuren sowie Vitamin E. Raten Sie Ihren Kunden, die Mengenverhältnisse der Pyramide oder des Kreises zu beachten und zwischen den Lebensmitteln abzuwechseln.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 05/19 ab Seite 138.

Martina Görz, PTA, Psychologin und Fachjournalistin

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