© Dmitriy Denysov / 123rf.com

Chronische Schmerzen

WARNFUNKTION VERLOREN

Betroffene haben manchmal eine Odyssee von einem Arzt zum anderen hinter sich; teilweise dauert es immer noch viele Jahre, ehe diese Krankheit richtig erkannt und auch therapiert wird.

Seite 1/1 4 Minuten

Seite 1/1 4 Minuten

Normalerweise – als akute Beschwerden – erfüllen Schmerzen eine wichtige Funktion als Alarmzeichen. Hält die Pein über drei beziehungsweise, nach einer anderen Definition, sechs Monate an oder kommt sie mit kurzen Unterbrechungen immer wieder, ist keine Schutzwirkung mehr vorhanden; man spricht vom chronischen Schmerzsyndrom, einer eigenständigen Krankheit.

Viele chronische Erkrankungen gehen mit Schmerzen einher. In diesen Fällen muss, so gut es geht, diese Grunderkrankung behandelt werden. Zu einer anderen Kategorie gehören solche Beschwerden, die sich oft keinem Schaden oder keiner eindeutigen Ursache (mehr) zuordnen lassen beziehungsweise bei denen die Intensität im Verhältnis zum Ausmaß der Schädigung unverhältnismäßig hoch ist. Am Anfang einer solchen Schmerzkrankheit steht zunächst meist ein akuter Schmerz infolge einer lokalen Gewebereizung oder -zerstörung.

Empfindlichkeit erhöht Nach wiederholten starken Schmerzreizen werden Verarbeitung und Wahrnehmung der Reize bisweilen in einer Weise verändert, die sie als intensiver und länger anhaltend erleben lässt. Diese Sensibilisierung kann auf drei verschiedenen Ebenen stattfinden: So sind die Schmerzrezeptoren in der Peripherie, also etwa an der Haut oder auch an einem Organ, so veränderbar, dass sie auf einen gegebenen Reiz verstärkt reagieren.

Normalerweise werden die verzweigten Zellausläufer von peripheren, also außerhalb von Gehirn und Rückenmark verlaufenden Nervenfasern, die sogenannten freien Nervenendigungen oder Schmerzsensoren (Nozizeptoren), nur dann erregt, wenn der eintreffende Reiz relativ stark ist. Bestimmte Mediatoren jedoch, die zum Beispiel im Rahmen von Entzündungen freigesetzt werden, wie Bradykinin, Prostaglandine oder Interleukin 1, erhöhen die Empfindlichkeit der Schmerzrezeptoren; die Schmerzschwelle sinkt.

Modulation der Reizverarbeitung Die (primären) Neuronen geben die aus der Haut oder anderen Geweben stammenden Signale im Rückenmark an spezialisierte (sekundäre) Nervenfasern weiter. Dabei findet eine komplexe Verarbeitung der Information statt. So wird auf dieser Ebene zum Beispiel der Rückzugsreflex vermittelt: das blitzschnelle Zurückziehen der Hand von einer Schmerzquelle, noch ehe man den Schmerz zu fassen oder einzuordnen vermag.

In der Schaltstelle Rückenmark können eintreffende Erregungen auch moduliert werden: Durch Endorphine wird die Empfindlichkeit des Systems reduziert; andererseits kann die Ausschüttung von Substanz P dazu führen, dass die weiterleitenden Nervenzellen sensibler auf Schmerzreize reagieren. Auch im Rückenmark finden also Veränderungen statt, die zu einer Chronifizierung von Schmerzen führen können. Erst in der Großhirnrinde, dem Kortex, werden die ankommenden Erregungen analysiert. Hier wird der Schmerz bewusst wahrgenommen und lokalisiert. Gleichzeitig erfolgt an anderer Stelle, im limbischen System, die emotionale Bewertung der Empfindung.

Spuren hinterlassen Kommen im Gehirn über einen längeren Zeitraum wiederholt intensive Schmerzsignale an, kann sich auch auf dieser letzten Stufe der Reizverarbeitung die Wahrnehmung so verändern, dass sie verstärkt wird beziehungsweise sich ganz abkoppelt von eingehenden Signalen. Es kommt zu regelrechten Umbauprozessen, einer Neuverschaltung und Ausweitung der bestimmten Sinnesreizen zugeordneten Areale – die Grundlage zum Beispiel für den Phantomschmerz. Man spricht auch von neuronaler Plastizität.

Die gleiche Anpassungsfähigkeit der Nervenzellen, die uns das lebenslange Lernen ermöglicht, kann – unter ungünstigen Bedingungen – ein Schmerzgedächtnis ausbilden. Beteiligt an der Verselbständigung von Schmerzempfindungen sind diverse Einflüsse, darunter auch psychosoziale. Als Risikofaktoren gelten beispielsweise Depressionen, Angst, Sorgen, Anspannung oder das Gefühl der Hilflosigkeit.

ZU VIEL SCHMERZMITTEL
Chronische Schmerzen können auch durch übermäßige Anwendung von Analgetika entstehen. Dies ist bei den medikamenteninduzierten Kopfschmerzen der Fall. Diese sind definiert als Kopfschmerzen, die sich unter einer regelmäßigen Einnahme von Schmerzoder Migränemitteln entwickeln beziehungsweise deutlich verschlimmern. Erklären Sie Ihren Kunden, dass diese Gefahr besteht, wenn die Medikamente an mehr als zehn Tagen im Monat genommen werden. Hier hilft zunächst nur das Absetzen der Medikation, was während der ersten sieben Tage mit Entzugssymptomen wie starken Schmerzen, Übelkeit, Angst und Nervosität einhergeht.

Von den sogenannten nozizeptiven Schmerzen, die als Folge von Verletzungen oder Entzündungen entstehen (Beispiel: chronische Rückenschmerzen), unterscheidet man die neuropathischen Schmerzen, bei denen das Nervensystem selbst geschädigt ist, etwa ein Nerv direkt verletzt wurde. Neben mechanischen Schädigungen kann dies auch durch eine Infektion geschehen, wie bei der Gürtelrose, die bisweilen den postzosterischen Schmerz hinterlässt, der nur schwer therapierbar ist. Auch diabetische Polyneuropathie und Trigeminusneuralgie zählen zu dieser Gruppe.

Behandlung multimodal und individuell Hilfe finden Betroffene am besten in einem Schmerzzentrum oder einer Schmerzambulanz. Hat sich der Schmerz erst einmal zu einer Krankheit „ausgewachsen“, kann medikamentöse Therapie allein nicht helfen. Nötig ist vielmehr ein multimodales Therapiekonzept. Im Vordergrund stehen das Erlernen von Bewältigungsstrategien durch den Patienten und eine Verbesserung der Lebensqualität; vollkommene Schmerzfreiheit wird meist nicht erzielt. Bei chronischen nozizeptiven Schmerzen wird nach dem WHO-Stufenschema therapiert, also: zunächst NSAR oder andere peripher wirksame Schmerzmittel, zweite Stufe: schwache und dritte Stufe: starke Opioide, wobei ein fester Einnahme-Zeitplan wichtig ist (keine Einnahme nach Bedarf!).

ZUSATZINFORMATIONEN

Weitere Therapiemöglichkeiten
Handelt es sich um neuropathische Schmerzen, sind Schmerzmittel nicht hilfreich. In diesen Fällen werden Antikonvulsiva oder Antidepressiva empfohlen, ferner lang wirksame Opioide. Auch topische Therapeutika in Form von Pflastern mit Lidocain oder Capsaicin sind indiziert.

Als wesentlich gelten vor allem nicht-medikamentöse Maßnahmen, die je nach Situation kombiniert werden. Im Rahmen eines interdisziplinären Schmerzmanagements gilt es, auch auf emotionale wie kognitive Dimensionen des Krankheitsgeschehens Einfluss zu nehmen. Die Palette der individuell anwendbaren Optionen reicht von Physiotherapie und Funktionstraining über Biofeedback, Verhaltenstraining und Entspannungsübungen bis zu Bewegungstherapie und Stressabbau. Wichtig sind ein vertrauensvolles Verhältnis zum Therapeuten sowie die ausführliche Erklärung der Krankheitsentstehung. Der Patient soll in die Lage versetzt werden, eigenverantwortlich an der Behandlung mitzuarbeiten.

Damit Schmerzen erst gar keine Chance haben, sich zu verselbständigen, sollten starke akute Schmerzen von Beginn an ausreichend behandelt werden.

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 10/14 ab Seite 50.

Waltraud Paukstadt, Dipl. Biologin

×